26. Oktober 1962: Die Hamburger Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ werden von Polizei besetzt und durchsucht. Der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß fühlte sich von den Journalisten unter Druck gesetzt, erwirkte in der Folge bei Bundes-kanzler Konrad Adenauer die Durchsuchung. Der Grund: In der Spiegel-Ausgabe vom 8. Oktober 1962 erschien ein Artikel unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“, in dem dargestellt wird, dass das von Strauß vertretene Verteidigungskonzept der Bundeswehr einen potentiellen Angriff des Warschauer Paktes nicht abwehren könnte. Die Erkenntnis stützte sich unter anderen auf Ergebnisse des NATO-Manövers Fallex 62. Mehrere Spiegel-Redakteure werden wegen Landesverrates und Bestechung festgenommen, da man vermutet, dass die Journalisten ihre Informationen durch Geldzahlungen erhalten hätten. Der Angriff auf die Pressefreiheit führt zu heftigen Protesten aus der Bevölkerung und im Laufe der Affäre kommt es zum Bruch des Kabinetts Adenauer. Die verhafteten Redakteure des Spiegel werden sukzessive entlassen, und nach insgesamt 103 Tagen in Untersuchungshaft ist schließlich auch Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein wieder frei.
25. Februar 2015: „Netzpolitik“ zitiert in einem Artikel aus internen Unterlagen des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Darin geht es um Pläne des Inlandsgeheimdiensts, massenhaft Internet-Inhalte auszuwerten. BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen sieht Verrat an Geheimnissen der Bundesrepublik und erstattet eine erste Strafanzeige. Sie richtet sich gegen „unbekannt“. Am 15. April 2015 legt „Netzpolitik“ nach: Die Blogger zitieren erneut aus internen Akten des Verfassungsschutzes. Es geht um eine BfV-Referatsgruppe, die massenhaft das Internet auswerten soll. Maaßen stellt eine zweite Strafanzeige. Die übergeordnete Behörde, das Bundesinnen-ministerium, ist durch Maaßen informiert und billigt die Strafanzeigen. In der Folge übersendet das BfV ein ausführliches Rechtsgutachten an Generalbundesanwalt Range, das den Verrat von Staatsgeheimnissen bejaht. Range gibt im Juni bei einem unabhängigen Fachmann noch ein externes Rechtsgutachten in Auftrag, ob es sich bei den „Netzpolitik“-Informationen tatsächlich um Staatsgeheimnisse handelt, wie es der Verfassungsschutz behauptet. Das Gutachten erhält er am 3. August. Der Befund: Ja, es handele sich um Staatsgeheimnisse. Ende Juli sehen Kritiker einen Angriff auf die Pressefreiheit. Minister Maas rückt demonstrativ von seinem unter Beschuss geratenen Generalbundesanwalt ab. Er bezweifle das Vorliegen von Landesverrat, sagt Maas. Den Rest kennen wir: Range sieht die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet. Es gebe nicht nur die Unabhängigkeit der Presse. Hierbei verkennt der Generalbundesanwalt, dass er kein Richteramt innehat und als Beamter den Weisungen des Justizministeriums untersteht. Er wettert gegen Maas. Dieser sieht nun das Verhältnis gänzlich als zerrüttet an und trennt sich von Range.
Warum soll die Veröffentlichung der Unterlagen durch „Netzpolitik“ strafbar sein? § 94 Abs. 1 2. Alternative des Strafgesetzbuches (StGB) lautet:
„Wer ein Staatsgeheimnis …
sonst an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, |
und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“
Der Begriff „Staatsgeheimnisse“ ist in § 93 StGB definiert als „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.“
Wollte „Netzpolitik“ die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland mit der Veröffentlichung der Unterlagen gefährden? Hat Deutschland mit dem Bekanntwerden dieser Tatsachen einen „schweren Nachteil“ in der äußeren Sicherheit, d.h. gegenüber fremden Staaten? Man darf zweifeln. Sowohl innen- als auch außenpolitisch ist seit dem Bekanntwerden der NSA-Affäre und der damit verbundenen staatlichen Bespitzelung von Politikern und Bürgern das Problem allgemein bekannt. Es wäre fast verwunderlich gewesen, wenn die deutschen Sicherheitsbehörden anders verfahren wären.
Die Unterlagen galten darüber hinaus als „VSV“, „Verschlusssache vertraulich“. Vertraulich ist weder „geheim“, noch „streng geheim“! Das Wort „Geheimnis“ steckt hier nicht drin. Jedenfalls nach wörtlicher Auslegung. Nach systematischer Auslegung bedeutet es aber, dass die Unterlagen nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind. Hiergegen verstößt die unbefugte Veröffentlichung.
Trotz allem erscheint die Verfolgung der Angelegenheit als „Landesverrat“ überzogen. Zumal die äußere Sicherheit der Bunderepublik nicht gefährdet ist. Eine Sache für die Rechtsexperten!
© Thomas Dietsch