Roter Bruder

Sie ritten beide Seite an Seite durch die Prärie, stets für das Gute kämpfend. Als sich ihr Blut vermischte sagten beide: „Mein Bruder!“. Die Rede ist von Winnetou und Old Shatterhand. Zwei Gestalten aus dem Wilden Westen, Vorbilder an Tapferkeit und Redlichkeit für Generationen von hauptsächlich jungen Leuten. Der Held meiner Kindheit ist die Tage verstorben: Winnetou, der Häuptling der Apachen, alias Pierre Brice. Er wurde 86 Jahre alt. Im Gedanken lasse ich ihn ein letztes Mal in den Sonnenuntergang reiten. Lex Barker, welcher die Rolle des Old Shatterhand spielte, starb schon vor 42 Jahren. Bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg musste Pierre Brice an der Seite anderer Partner auftreten.
Was bleibt außer dem Tränchen im Auge? Mit Sicherheit die Erinnerung an unterhaltsame Stunden beim Schmökern von Karl Mays Büchern oder beim Fernsehen. Die Karl-May-Filme! Es gibt mehrere Teile. Der mit Hut hieß Old Surehand, der Spaßvogel Sam Hawkins. Ja, sie werden einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der französische Indianerhäuptling, seine amerikanischen Freunde und die vielen deutschen Indianer und Weißen. Man erinnere sich an Uschi Glas und Götz George. Nicht zu vergessen der böse Santer, Mörder von Winnetous Vater und Schwester alias Mario Adorf.
Und das Ganze in diesem weiten Land. Wo eigentlich? Es muss irgendwo in Nordamerika des 19. Jahrhunderts spielen. Aber eigentlich ist es ein Phantasieland. Karl May, geboren 1842, war ein deutscher Schriftsteller. Er soll nie in Amerika gewesen sein. Gereist ist er im Geiste. Seine Reiseberichte sind die faszinierenden Bücher über die Apachen, Komantschen, Kiowa und die weißen Siedler. Karl May war auch bei den Inkas und in der Wüste. Ab 1900 schrieb er ebenfalls symbolische Romane, unter anderen „Ardistan und Dschinnistan“. Vielleicht war der Mann ein zu großes Kind, eines mit einer überbordenden Phantasie. In seinen Büchern hat er sie mit uns geteilt.
Und die Winnetou-Filme haben diese Tradition fortgesetzt. Wenn ich mich recht entsinne, lebten die Apachen am Rio Pecos. Das Dorf lag an dieser Flussbiegung … Auch ein Phantasieland! Gedreht wurde im ehemaligen Jugoslawien, in der schönen Landschaft der Plitwitzer Seen. Eine Gruppe von 16 Gebirgsseen im heutigen Kroatien, verbunden durch Stromschnellen und Wasserfälle. Nicht umsonst hat man dieses Gebiet zum Naturschutzgebiet erhoben.
Die ganzen Protagonisten – jedenfalls bezogen auf die Guten – sind ein Vorbild an Redlichkeit. Moralische und sittliche Werte waren Karl May offensichtlich sehr wichtig. Mit der Unterhaltung wollte er auch Werte weitergeben. Dies hat er sehr geschickt gemacht. Die Jugend eifert Vorbildern nach. Was ist besser, als moralische Werte spielend oder lesend zu lernen?! Unterhaltung mit Nährwert! Hier beweist sich die Aktualität von Karl Mays Romanen, nämlich in seiner Art, wie er die ihm wichtigen Werte pädagogisch vermittelt. Ein Ansatz, der auch in unserer Zeit fruchten sollte.
Die Reiseberichte sind einerseits frei erfunden, Karl May hat Winnetou nie getroffen. Auch nicht Old Shatterhand. Es hat sie nie gegeben. Aber andererseits: es könnte sie gegeben haben. Karl May hat den Versuch angestellt, eine bessere Welt zu schreiben. Vielleicht sollten wir die Geschichten wieder einmal lesen.
Winnetou! Am Rio Pecos sehen wir uns wieder. Mein Bruder …

 

© Thomas Dietsch