Nach den Anschlägen im letzten Monat in der französischen Hauptstadt, hat Ernest Hemingways „Paris, ein Fest fürs Leben“ eine unverhoffte Renaissance erlebt. Und es ist wenig überraschend, dass es binnen weniger Tage zum Bestseller avancierte. Wenngleich es niemanden geben wird, der sich nicht einen besseren Anlass für diese Wiederentdeckung gewünscht hätte.
Hemingways letztes Buch, erstmals 1964 – drei Jahre nach seinem Selbstmord – erschienen und an dem er in einer Lebensphase schrieb, in der er längst körperlich und seelisch heillos aufgerieben war, ist vor allem eines: eine Beschwörung des eigenen, unwiederbringlich verlorenen, vielleicht auch nie wirklich real gewesenen Glücks. Hemingway verknüpft dieses Glück in seinem Buch mit dem Paris der zwanziger Jahre, mit dem Mythos einer Stadt, in der jeder kurz- oder längerfristige Besucher sich unmittelbar an einen Energiestrom aus Bohème und Leidenschaft, Dekadenz, Intellektualität und Weltoffenheit angeschlossen glauben konnte.
Als Grundlage seines Schreibens dienten Hemingway Notizen aus den zwanziger Jahren, die in Koffern verstaut im Keller des Pariser Ritz-Hotels gelegen hatten. Als er die mit Erinnerungen gefüllten Koffer 1956 hinauftragen ließ und zum erstmals wieder öffnete, befand er sich in einer Zeitkapsel, deren gefühlsgesättigter Inhalt sich ihm offenbarte. Schon als Hemingway an dem Pariser Manuskript arbeitete, das (anlässlich seines 50. Todestages) im Jahr 2011 erstmals in seiner Urfassung herausgegeben worden ist, handelte es sich keinesfalls um zeitgenössische Schilderungen der französischen Metropole, vielmehr um den Entwurf eines Stadt- und Lebensgefühls, das längst diffundiert war, auch wenn Hemingway dies natürlich durch das Schreiben selbst zu leugnen versuchte.
Sein Paris-Roman ist nicht das realistische Bild einer Stadt, vielmehr ein Idealbild. Ein Bild, wie wir es angesichts der verheerenden Gegenwart umso inniger heraufbeschwören. Dass nun der plötzlichen Wiederentdeckung von Hemingways Buch etwas Eskapistisches innewohnt, ist unbestreitbar. Begreifen lässt sich diese Sehnsucht nach einem vermeintlich ursprünglichen oder zumindest anderen Paris, als jenes, das wir derzeit in den Medien erleben, als eine Art Trauerarbeit oder auch als Ausdruck der Hilflosigkeit des Einzelnen.
Näher heran an die Pariser Gegenwart führt derweil der in Deutschland gerade im Verlag Edition Tiamat erschienene Roman „Auf den Straßen von Paris“ des 1971 geborenen Frédéric Ciriez. Der deutsche Titel weckt Assoziationen an ebenjene Zeit, die Hemingway dem Leser ausmalt, eine Zeit, in der neben den Caféhäusern die Straßen – und in Paris vor allem die großen Boulevards – zu jenen Orten wurden, an denen der Flaneur als schlendernder Beobachter meinen mochte, den Zustand seiner Zeit und ihrer Bewohner ablesen zu können.
Was waren die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts? Im Grunde eine geile Zeit! Man darf aber dieses Lebensgefühl nicht abstrakt von jeglichem historischen Zusammenhang betrachten. Es war vielmehr der bis dahin größten Katastrophe des jungen 20. Jahrhunderts geschuldet, dem 1. Weltkrieg. Ein Krieg mit Millionen von Toten, einer maschinisierten Art des Massentötens. Ein Krieg, welcher an Grausamkeit alles bisher dagewesene in den Schatten stellte. Zurück blieben Hunger, Witwen, Waisen, bettelnde Krüppel und seelisch kaputte Männer, die von der Front heimkehrten, von welchen niemand mehr etwas wissen wollte. Die zwanziger Jahre waren zu einem großen Teil ein ganzes Stück Verdrängung von Erlebnissen der übelsten Art. Wurde zehn Jahre zuvor noch im Maschinengewehrfeuer gestorben, ließ man in den Zwanzigern „die Puppen tanzen“. Wenn das real Erlebte nicht ausreichte, griff man zu Drogen.
In Anbetracht der derzeitigen Umstände nach den Anschlägen von Paris ist es verständlich, dass der Mensch wieder nach der „heilen“ oder zumindest „besseren“ Welt greift. Die Romane entführen unsere Phantasie. Das ist so gewollt und auch gut so. Aber verlieren wir eins nicht aus dem Auge: die Realität! Sich nur Träumen hinzugeben kann schiefgehen. Die Geschichte mahnt: 1933 war der Anfang der zweiten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.