In der Kunstwelt gibt es in letzter Zeit eine beachtliche Zahl neuer Erkenntnisse. Das gilt insbesondere für Leonardo da Vinci. Wissenschaftler hatten mithilfe der sogenannten Strahlendiagnostik festgestellt, dass unter einem seiner berühmtesten Gemälde, der Londoner Felsgrottenmadonna, der eigenhändige Entwurf für ein ganz anderes religiöses Gemälde schlummert. Und dank derselben Technik verspricht nun eine neue wissenschaftliche Untersuchung auch das ewige Geheimnis der still lächelnden Mona Lisa zu lösen. Die These: Unter dem bekanntesten Frauenbildnis der Welt verberge sich ein anderes Porträt. Die Mona Lisa hat eventuell ein zweites Gesicht.
Spektakuläre Erkenntnisse – deswegen nicht unseriös – sind häufig das Resultat strahlendiagnostischer Analysen, beispielsweise der Infrarotreflektografie. Sie ist in den letzten Jahren stetig verbessert worden und ermöglicht einen tiefen Blick in die Farbschichten eines Gemäldes und gegebenenfalls in dessen Entwurfsprozess. In diese Tiefen drang bereits ein 2006 publiziertes Buch vor. Jetzt folgt der französische Wissenschaftler Pascal Cotte, der gerade seine Erkenntnisse einer detaillierten strahlendiagnostischen Versuchsreihe in seinem Buch Lumière on The Mona Lisa. Leonardo da Vinci. Hidden Portraits vorgestellt hat.
Im Detail versucht Cotte nachzuweisen, dass Leonardo sein Bild während des Malprozesses an etlichen Stellen verändert hat. Das betrifft beispielsweise die Umrisslinien im oberen Bereich des Kopfes sowie die Konturen der Hände und einzelner Finger. In der Binnenzeichnung finden sich Abweichungen vom endgültigen Erscheinungsbild der Mona Lisa bei der Detailgestaltung von Augen, Mund, Nase und Kleidung.
Das Herzstück der Argumentation Pascal Cottes ist Mona Lisas Lächeln. Sein Befund suggeriert, dass Leonardo in einem ursprünglichen Entwurf eine weniger in die Breite gezogene Lippen- und Mundpartie vorgesehen hatte. Demzufolge wäre also das Lächeln der Mona Lisa erst später entstanden als Resultat einer letzten Überarbeitungsstufe.
Einige der präsentierten Resultate sind seit Langem bekannt, beispielsweise die Varianten in der Länge der Hände. Die Abweichungen beim Außenkontur im oberen Kopfbereich sind nicht wirklich spektakulär und teilweise mit bloßem Auge zu erkennen. Andere Details kennen wir bereits durch Röntgenaufnahmen der letzten 60 Jahre. Neu hingegen ist die Vielzahl der Detailbefunde, die in der Tat die ohnehin schon seit Jahren intensiv geführte und sehr produktive Diskussion um Leonardos Entwurfspraxen befeuern dürfte.
Als ein Ergebnis der bisherigen Kontroverse schälte sich heraus, dass Leonardo in seinen Entwürfen keiner vorgegebenen Norm folgte, sondern das ganze Spektrum der bekannten Möglichkeiten ausschöpfte. Manchmal kam er vollkommen ohne Vorzeichnung aus und agierte frei. Ein anderes Mal übertrug er vorbereitete Kompositionen mithilfe von Kartons auf den Bildträger. Stimmen Cottes Resultate, dann war Leonardo in seiner Arbeit noch variabler als bislang angenommen.
Cotte kommt aufgrund seiner Ergebnisse zu weitreichenden Schlussfolgerungen. So geht er davon aus, dass die mit der Strahlendiagnostik sichtbar gemachten Linien von einem Ursprungsentwurf zeugen, der noch die Mona Lisa zeige, während mit der Endfassung des Gemäldes eine ganz andere Person gemeint gewesen sei. Mit anderen Worten: Das Gemälde müsste umbenannt werden. Aus der Mona Lisa würde das Bildnis einer Unbekannten. Auch diese Annahme ist nicht neu …
Es lässt sich aber nicht schlüssig sagen, wen Leonardo zunächst zeichnete und malte, um den Entwurf dann zugunsten der endgültigen Bildgestalt zu verwerfen. Welche Linien zu welcher Entstehungsphase gehören, bleibt eine Deutungsfrage.
Kritisch anzumerken ist, dass Cottes These von einem gewissen Unverständnis der künstlerischen Praxis Leonardo da Vincis zeugt. Der Künstler arbeitete sehr langsam und gelegentlich mit längeren Unterbrechungen an seinen Gemälden. Spuren von Überarbeitungen und kleineren Änderungen einer ursprünglichen Kompositionen oder einiger Details sind also keineswegs sensationell, sondern genau das, was wir von Leonardo erwarten dürfen. Letztendlich lassen sich so keine zweifelsfreien Schlüsse daraus ziehen, um wen genau es sich bei der Mona Lisa handelte.
Trotz aller wissenschaftlicher Exaktheit strahlendiagnostischer Untersuchungen darf man auch nicht übersehen, dass deren Ergebnisse bereits das Resultat von Interpretationen sind und einer historischen Einordnung bedürfen.