Das Oberste Gericht Großbritanniens befasst sich von heute an mit der Berufung der Regierung gegen ein Brexit-Gerichtsurteil, wonach das Parlament der Einleitung des EU-Austrittsprozesses zustimmen muss. Die Anhörungen sollen bis Donnerstag dauern. Das Urteil der elf Richter soll nach Angaben des Supreme Court voraussichtlich zu Beginn des neuen Jahres bekannt gegeben werden. Anfang November hatte bereits der High Court in London entschieden, dass die britische Regierung die Brexit-Verhandlungen nur nach Zustimmung der Abgeordneten starten darf.
Mehrere Briten hatten geklagt, weil die Regierung ihrer Ansicht nach einen Austrittsantrag nach Artikel 50 der EU-Verfassung nicht aktivieren könne, ohne dass das Parlament in London zuvor darüber debattiert und abgestimmt hat. Premierministerin Theresa May will den Startschuss für den Ausstieg bis spätestens Ende März geben. Die Briten hatten im Juni in einem Volksentscheid mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Sobald Artikel 50 aktiviert ist, hat Großbritannien zwei Jahre Zeit, mit der EU die Trennungsmodalitäten auszuhandeln.
Der Vorsitzende Richter des Supreme Court, David Neuberger, betonte zu Beginn, es gehe in diesem emotional aufgeladenen Verfahren nur um das Recht, nicht um politische Fragen.
Ein Londoner Gericht (High Court) hat Anfang November beschlossen, dass Premierministerin Theresa May nicht entscheiden darf, ohne das Parlament zu fragen und damit offenbar ihre Brexit-Pläne durcheinander gebracht. Die Regierung hat das Urteil angefochten. Generalstaatsanwalt Jeremy Wright sagte, in dem Fall gehe es um „das Herzstück der Verfassungsordnung“.
Vor dem Gerichtsgebäude demonstrierten EU-Anhänger in einem roten Doppeldecker-Bus in traditionellen britischen Richterroben und Perücken für ihr Anliegen. Zudem hielt eine Gruppe von Brexit-Befürwortern Schilder mit der Aufschrift hoch: „Ein abgekartetes Spiel des Establishments.“
Einige Abgeordnete aus Mays Konservativer Partei hatten den Rücktritt des Richters Neuberger gefordert, da dessen Ehefrau Anti-Brexit-Botschaften getwittert hatte. Laut dem Gericht wurde jedoch kein Befangenheitsantrag gestellt.
Jetzt geht es um Antworten auf die wichtigsten Fragen des Prozesses:
Offiziell fürchten die Brexit-Befürworter um die Demokratie. Ihr Argument: Das Parlament habe entschieden, das Volk über den EU-Austritt abstimmen zu lassen. Es sei klar gewesen, dass ein „No“ zur EU den Ausstieg bedeute. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Die Abgeordneten des Unterhauses, die mehrheitlich keinen Brexit wollten, könnten Einfluss auf die Verhandlungen gewinnen – und einen „weichen“ Austritt erzwingen, der die Briten nahe an die EU bindet und den Zugang zum Binnenmarkt über die Kontrolle der Grenzen stellt.
Das gilt als unwahrscheinlich. Aber der rechtliche Hickhack könnte die Verhandlungen verzögern. Unter anderem dürfen auch die Regierungen von Schottland und Wales in dem Berufungsverfahren mitreden. Die britische Regierung plant dennoch weiter, spätestens Ende März mit den Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 des EU-Vertrages zu beginnen.
Nach Auffassung britischer Rechtsexperten könnte und dürfte das höchste britische Gericht das erste Urteil bestätigen – also die Zustimmungspflicht durch das Parlament. Fraglich ist, ob in diesem Fall eine einfache Abstimmung ausreicht oder ob die Regierung ein zeitaufwendiges Gesetzgebungsverfahren einleiten muss. Letzteres könnte den Brexit-Fahrplan stark beeinflussen. Noch ein weiteres Szenario ist denkbar: Weil es um die Auslegung von Artikel 50 des EU-Vertrags geht, könnte das britische Gericht das Problem sogar dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegen.
Conclusio: Das Parlament ist der Vertreter des Volkes. Das Volk als Souverän gibt die Macht in die Hände der Abgeordneten. So vermeidet man, mit Plebisziten über alles und jenes entscheiden zu müssen. Ist das Parlament also per Verfassung eingesetzt, den Volkswillen zu vertreten, kann grundsätzlich ein Volksentscheid keine Rechtswirkung entfalten.
Das Problem ist allerdings, dass das britische Parlament entschieden hat, das Volk über den EU-Austritt abstimmen zu lassen. Wurde in diesem Fall Souveränität an das Volk zurückgegeben? Dann sieht das Ganze etwas anders aus. Hierüber muss der Supreme Court entscheiden. Gegebenenfalls gegen den High Court.
Sollte der Parlamentsvorbehalt dennoch bestätigt werden (Großbritannien ist nicht nur England!): Was wird dann mit den Parlamenten in Nordirland, Schottland und Wales? Sind diese auch zu beteiligen? Oder genügt eine eventuelle Zustimmung aus London?
Die Briten sind noch lange nicht raus …