Bei Protesten für die Freilassung des inhaftierten Kremlkritikers Alexej Nawalny in Russland sind Bürgerrechtlern zufolge mehr als 3.400 Menschen festgenommen worden. Allein in der Hauptstadt Moskau wurden mindestens 1.360 Demonstranten festgesetzt (OWD-Info). 523 weitere Festnahmen gab es demnach in Sankt Petersburg. Angaben von Russlands Kinderrechts-Beauftragten zufolge wurden auch rund 300 Minderjährige in Gewahrsam genommen.
Nawalny drohen in Russland mehrere Strafverfahren und viele Jahre Gefängnis. In Haft sitzt der 44-Jährige aktuell zunächst für 30 Tage, weil er gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben soll – während er sich in Deutschland von dem Giftanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok erholte.
Zusätzlich für die Proteste mobilisiert hatte wohl ein kürzlich von Nawalnys Team veröffentlichtes Enthüllungsvideo, das beweisen soll, dass Putin sich aus Schmiergeldern ein „Zarenreich (n-tv.de) am Schwarzen Meer bauen ließ.
Es sind damit die größten Proteste seit Jahren in Russland, zu denen Nawalny aufgerufen hat. Zuletzt waren 2017 Zehntausende auf die Straßen gegangen, als der Oppositionelle und sein Team einen Film über Anwesen und Weingüter veröffentlicht hatten, die sie dem damaligen Premier Dmitrij Medwedew zuordneten.
Nun, mehr als drei Jahre später, hat sich allerdings die Lage im Land weiter verschlechtert, das Klima ist noch repressiver geworden. Putin setzte seit 2017 unzählige Gesetze in Kraft, die auch das Versammeln auf der Straße noch schärfer sanktionieren. Ohnehin wurden schon in der Vergangenheit Kundgebungen der Opposition selten genehmigt. Seit Tagen hatten die Behörden vor der Teilnahme an den ungenehmigten Protesten gewarnt; Kremlsprecher Dmitrij Peskow sprach von „Provokateuren“, ein Vize-Innenminister von Versuchen der „Destabilisierung des Landes“ (SPON) – eine Wortwahl, wie sie in den vergangenen Monaten auch vom belarussischen Regime im Nachbarland angesichts der dortigen Proteste oft zu hören war.
Auch wenn die Unzufriedenheit mit Putin und seinen Leuten in Russland wächst, ist es bisher nur eine Minderheit, die in Nawalnyj eine glaubwürdige Alternative zum jetzigen Machthaber sieht. Den Demonstrationen, zu denen Nawalnyj für Samstag aufgerufen hat, stehen nicht nur die Repressionsorgane entgegen, sondern auch zweistellige Minustemperaturen, die Covid-Pandemie und die weitverbreitete Überzeugung, dass Veränderungen von unten in Russland sowieso nicht möglich seien.
Ein irrationaler Husarenritt ist Nawalnyjs Vorpreschen dennoch nicht. Wäre er im Ausland geblieben, wäre ihm der Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit sicher gewesen, und lange Haftstrafen drohten ihm bei der Rückkehr ohnehin. Er musste in die Offensive gehen, wenn das in den vergangenen Jahren mühsam erarbeitete politische Kapital in seiner Abwesenheit nicht schmelzen sollte. Das ist ihm gelungen.
Diese frontale Attacke auf Putin, wie es sie in einer solchen Breitenwirkung noch nicht gegeben hat, wird ein festes Datum in der russischen Politik bleiben, das mit Nawalnyjs Namen verbunden bleibt.