Die Sonne ist fast schon untergegangen am Evros. Da steigen die Chancen durchzukommen, zumindest für die fitten jungen Männer …

In gleich zwei Reden hat der türkische Präsident am Montag seinen groß angelegten Erpressungsversuch verstärkt. Erdogan verkündete, dass „die Zeit der einseitigen Opferbereitschaft nun vorbei“ sei (n-tv.de). Mit Bussen lassen die türkischen Behörden jetzt Tausende von Migranten (nur ein Teil davon sind Syrer) an die griechische Grenze karren, um politischen Druck auszuüben. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu spricht von 78.358 Flüchtlingen, die bis Sonntagmorgen in Richtung Edirne aufgebrochen sein sollen. Die Provinz im Nordwesten der Türkei grenzt an die EU-Staaten Griechenland und Bulgarien.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet diese Machtpolitik auf Kosten von Flüchtlingen als „inakzeptabel“. Eigentlich sollte diese Woche in Brüssel ganz anders ablaufen. Am Mittwoch will die EU-Kommission ihr Klimagesetz beschließen, Ursula von der Leyen hatte die Klimaaktivistin Greta Thunberg persönlich ins Berlaymont-Gebäude eingeladen. Auch im Kampf gegen das Coronavirus und dessen Folgen für Europas Bürger und Volkswirtschaften wollte die oberste EU-Behörde ein Zeichen setzen. Gleich mit fünf Kommissaren und Kommissarinnen präsentiert von der Leyen im „Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen“ das neue „Corona Response Team“.

Den Vorwurf Erdogans, Brüssel breche seine Versprechen, erbost EU-Diplomaten. Drastisch formuliert es der niederländische Premier Mark Rutte, der das Abkommen damals als Ratspräsident vorangetrieben hat: Europa werde nicht mit „dem Messer an der Kehle“ (sueddeutsche.de) verhandeln. Rutte wirft Erdogan vor, das Schicksal der Flüchtlinge für seine eigenen politischen Ziele zu missbrauchen.

Das Abkommen zwischen Türkei und EU sah vor, dass sich Ankara verpflichtet, von einem bestimmten Tag an alle syrischen Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen. Verabredet wurde auch, dass die EU für jeden von Griechenland in die Türkei zurückgeführten Syrer je einen Syrer direkt aus der Türkei aufnimmt. Die Grenzen zu Griechenland sollte die Türkei geschlossen halten. Als Gegenleistung für Ankara versprach die EU, den Beitrittsprozess wiederzubeleben.

Merkel sprach sich für die schnelle Aufnahme von Gesprächen der EU mit der Türkei aus, um den durch das EU-Abkommen mit der Türkei erreichten Zustand wiederherzustellen und die Versorgung der Flüchtlinge auf türkischem Boden sicherzustellen. Die Bundeskanzlerin sprach in diesem Zusammenhang nicht nur von weiterer finanzieller Hilfe durch die EU, sondern auch von der Möglichkeit direkter Unterstützung durch Deutschland.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat angesichts der Eskalation zwischen Grenzschützern und Migranten an der türkisch-griechischen Grenze vor einem Zerbrechen der Genfer Flüchtlingskonvention gewarnt. „Das was Donald Trump sich erträumt hätte, einfach das Recht auf Asyl abzuschaffen und die Grenze zu militarisieren, das macht heute die Europäische Union“, kritisierte Knaus (ORF-Nachrichtensendung „ZiB2“, zitiert in welt.de). Die Milliardenhilfe der EU für die Integration der Syrer in der Türkei sei bisher eines der wenigen moralischen und erfolgreichen Projekte der EU gewesen.

Die Bundeskanzlerin weiß, wie viel die Türkei für Flüchtlinge leistet. Zugleich ist ihr bewusst, dass es schnell Kritik in Deutschland und im Rest der EU gibt, sobald sie Erdogan allzu große Zugeständnisse macht. Die Menschenrechtslage in der Türkei ist schließlich unverändert dramatisch. Außerdem stoßen Ankaras geopolitische Ambitionen, sei es in Libyen, im östlichen Mittelmeer oder in Syrien, auf Abwehrreaktionen in Europa. Zugleich ist Merkel klar, dass an der Türkei derzeit wohl kein Weg vorbeiführt, weil es keine europäische Lösung für den Umgang mit Migranten und Migrantinnen gibt und in etlichen Ländern Rechtspopulisten Erfolge feiern.

Seit die türkische Wirtschaft in der Krise ist, wächst die Fremdenfeindlichkeit in der türkischen Bevölkerung. Zwei von drei Türken stört es, so viele Syrer zu beherbergen, geht aus einer Studie der Kadir Has University (zeit.de, 24.01.2020) aus dem vergangenen Jahr hervor. Und die Zahl der Migranten und Migrantinnen im Land steigt weiter. Nach Zahlen des renommierten türkischen Migrationsexperten Murat Erdogan sind allein im vergangenen Jahr mehr als 425.000 Einwanderer (a.a.O.), die illegal ins Land kamen, gefasst worden.

 

 

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