2019, es drängt sich buchstäblich auf: die 1920er, was war das für ein Jahrzehnt? Was für eine Dekade kommt mit den 2020ern auf uns zu? Wer sich mit der deutschen Geschichte befasst, kommt nicht darum herum, im heutigen Blick auf die „Goldenen Zwanziger“ auch ein gehöriges Maß an Romantisierung zu erkennen. Es ist schon falsch, den Begriff auf das gesamte Jahrzehnt anzuwenden, denn an der Zeit vom Kriegsende 1918 bis zum Jahr 1924 war so gut wie gar nichts „golden“.

Die Gegenwart in der Hauptstadt Berlin war durch die Krieg und seine Folgen bestimmt. Den Vertrag von Versailles, der Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung am Krieg zuschrieb, die mit ihm verbundenen Reparationszahlungen und Gebietsverluste empfanden viele als schwere Zumutung. Schwerer für das alltägliche Leben in der Hauptstadt aber wog die Allgegenwart von Armut, Arbeitslosigkeit und Existenzangst. Bettelnde Kriegsinvaliden saßen an den Straßenecken, die Säuglingssterblichkeit erreichte Rekordwerte (morgenpost.de), Epidemien und Krankheiten machten die Runde. Vor diesem Hintergrund war auf der Straße eine politische Radikalisierung zu beobachten, die in der Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau durch Mitglieder der rechtsextremistischen „Organisation Consul“ am 24. Juni 1922 ein noch heute erschütterndes Fanal fand.

In den Tanzstuben, Varietés und Ballsälen herrschte eine neue Freizügigkeit, wie überhaupt die öffentliche Beschäftigung mit Sexualität einen, nun ja, Höhepunkt fand. Bereits 1919 hatte der aus einer jüdischen Familie stammende Arzt Magnus Hirschfeld an der Beethovenstraße in Tiergarten sein „Institut für Sexualwissenschaft“, eröffnet, das weltweit erste und einzige seiner Art. Erst 1933 wurde es im Zuge der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen geplündert und geschlossen.

In der Vorschau auf 2020 werden die vermeintlich „goldenen Zwanziger“ vor hundert Jahren zitiert. manche Parallelen sind durchaus sichtbar: Krisenerfahrung und große Dynamik, technischer Fortschritt und politische Verhärtung.

Wir wollen uns orientieren, suchen Halt in der Vergangenheit. Ein bisschen ist das mit den 20er-Jahren so wie mit dem 100-jährigen Kalender, dem Bauernkalender. Früher guckte man auf dem Land da rein. Da stand dann drin, vor 100 Jahren, am 31.12.1896, da war das Wetter so und so, und dann wird es vielleicht auch wieder so werden. Genau dieser Mechanismus ist diese Orientierung

– wir wissen nicht, wie die Zukunft wird, dann gucken wir mal, wie es vor 100 Jahren war und lassen uns davon ein bisschen leiten (Paul Nolte in deutschlandfunkkultur.de). Wenn wir jetzt auf die 20er-Jahre schauen, eigentlich unsere Krisenerfahrung des vergangenen Jahrzehnts, der 2010er-Jahre, mit dieser großen Finanz- und Flüchtlingskrise, Klimakrise, Demokratiekrise, Populismus. All diese Krisen der 2010er-Jahre projizieren wir auf die 2020er-Jahre, auf das, was uns bevorsteht.

2019 geht zu Ende und mit ihm ein Jahrzehnt, das irgendwo zwischen Digitalisierung, Globalisierung und dem Tanz ums Klima viel durcheinandergewirbelt hat. Ja, richtig – man könnte einwenden, dass die neue Dekade erst 2021 beginnt. Aber das ist bei dem Umgang mit diesen Zahlen eher nebensächlich. Finden wir uns damit ab: Wir betreten datumsmäßig jetzt bedeutenden Grund. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert hat ein Zeitraum einen vernünftigen Namen – die „20er-Jahre“, unsere 20er!

Die Latte der Erwartungen liegt. Denn mit den 20ern des vorherigen Jahrhunderts hat die Mode begonnen, unser Leben mehr oder minder in Zehn-Jahres-Schritten zu vermessen (ndr.de). Hier hat das 20. Jahrhundert so richtig Tempo aufgenommen – und wir bleiben diesem Sog auch lange nach dessen Ende verhaftet. Nur ganz anders. „Die Zeit fährt Auto“ – so brachte Erich Kästner die vielfachen Veränderungen in Politik, Technik, Kultur und Lebensstil nach dem Ende der Monarchien in Mitteleuropa auf eine Formel. 100 Jahre später geht es vielleicht eher darum, die Geschwindigkeit in Datensätzen zu messen. Und nebenbei stellt sich wohl auch die Frage, ob Autofahren überhaupt noch ein angemessenes Verhalten sein kann.

Geschichte wiederholt sich nicht und der Zahlenstempel auf einem vergangenen Jahrzehnt sagt nichts über unsere Zukunft aus.

Die heutige Situation ist nicht mit der von vor 100 Jahren zu vergleichen, weder wirtschaftlich, noch politisch, noch sozial. Zwar ist auch heute die Welt in Bewegung und Aufruhr. Doch die immer wieder zu hörenden Vergleiche zu den Anfängen der Nazi-Zeit sind zu pauschal und oberflächlich und halten keiner ernsthaften Überprüfung stand. Während die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durch den Konflikt großer Ideologien gekennzeichnet waren, besticht das 21. Jahrhundert eher durch das fast vollständige Fehlen derselben (Matthias Heitmann in cicero.de). Die heutige Gesellschaft ist, was ihre Politisierung angeht, der komplette Gegenentwurf zu den 1920er-Jahren.

Guten Rutsch!

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