Der Pakt

Am 23. August jährte sich zum 80. Mal der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes. Um freie Hand beim Einfall in Polen zu haben, hatte Hitler 1939 einen Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion geschlossen, zu dem auch Geheimprotokolle gehörten. In ihnen einigte er sich mit Stalin auf die Abgrenzung der Interessengebiete. Polen wurde zwischen beiden Ländern aufgeteilt, die Sowjetunion bekam freie Hand in Bessarabien, Finnland und im Baltikum. Moskau bekam zusätzlich einen Teil Rumäniens zugesprochen. Am 17. September 1939 – gut zwei Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen – marschierten auch sowjetische Truppen in Polen ein. Sie besetzten 52 Prozent des polnischen Territoriums mit einer Bevölkerung von mehr als 13 Millionen Menschen. 240.000 polnische Soldaten wurden gefangengenommen, etwa 20.000 polnische Offiziere, Polizisten und Intellektuelle später in sowjetischen Lagern erschossen. 330.000 Menschen wurden nach Sibirien oder Zentralasien deportiert.

Um die Angst seiner Generäle vor einem neuen Zweifrontenkrieg einzudämmen, begnügte er sich mit West- und Zentralpolen (die NS-Deutschland auch ohne die Verträge mit dem sowjetischen Erzfeind in der Folge des Angriffskriegs gegen Polen gewonnen hätte), während die Sowjetunion auf einen Schlag – und ohne nennenswerte Verluste – mehrere Grenzen des Zarenreiches von 1914 wiederherstellen konnte, stellenweise sogar darüber hinaus griff. Russland unter dem Namen Sowjetunion war 1939/40 wieder in Ostmitteleuropa angekommen (nzz.ch, 14.11.2014).

In den baltischen Staaten hat sich der 23. August als Symbol der sowjetischen Okkupation 1940/41 und 1944 bis 1991 gehalten. Für Litauen gilt das mit Einschränkung: Bevor die Sowjetunion im Sommer 1940 den Nachbarstaat zerstörte, schenkte sie ihm das ehemals polnische Vilnius samt Umgebung. Die heutige polnische Ostgrenze war komplett, von Norden bis Süden eine Folge des Hitler-Stalin-Paktes. Im Rückblick dürfte es 1989 zu den größten Verdiensten Polens gehört haben, dass es diese Frage nie aufgeworfen hat – und damit dem Auszug der Ukrainer, Weißrussen und Litauer aus der Sowjetunion eine stillschweigende Rückendeckung garantierte.

Zwar hatte es einige Westmächte gegeben, darunter die USA, welche die gewaltsame Gebietserweiterung Stalins nie anerkannt haben. De facto aber wollte niemand an der sowjetischen Oberherrschaft an der Ostsee rütteln. Das war spätestens 1956 auch im nun sowjetischen Baltikum verstanden worden. Seither begann eine Zeit, in der man sich unter den Bedingungen der Fremdherrschaft einrichtete.

Der 23. August 1989 ist den Balten deshalb in sehr guter Erinnerung: An die zwei Millionen Menschen bildeten damals eine mehr als 600 Kilometer lange Kette von Vilnius über Riga nach Tallinn, damals alle noch Teil der Sowjetunion. Sie standen an den Straßen und sangen für die Freiheit, so wie die von Moskau verbotene alte Hymne „Gott segne Lettland“. Als „Baltischer Weg“ ist das Ereignis in die Geschichte eingegangen.

Nach dem Untergang des Nazi-Reiches behielt Stalin die Beute, die er sich 1939 im Einverständnis mit Hitler angeeignet hatte. In der Bundesrepublik war im Laufe der Jahrzehnte jedoch das Bewusstsein dafür geschwunden, wie weit der Pakt der Diktatoren bis in die Gegenwart hineinwirkte.

Das hatte anfangs noch anders ausgesehen. In den frühen, vom Antikommunismus geprägten Jahren der Bundesrepublik, galt der Hitler-Stalin-Pakt als exemplarischer Beleg für die Deckungsgleichheit der beiden nur scheinbar antagonistischen totalitären Systeme.

Das Wort vom Kommunismus als „rotlackiertem Faschismus“ (welt.de) stammt von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegs-SPD-Vorsitzenden und KZ-Überlebenden.

Seit Mitte der 1960er-Jahre vollzog sich in dieser Hinsicht jedoch ein Paradigmenwechsel. Mit der Entspannungspolitik und unter dem Einfluss der linken Studentenbewegung, die später zur „68er-Bewegung“ verklärt wurde, geriet die Totalitarismustheorie in Verruf. Sie wurde bezichtigt, der deutschen Schuldverdrängung ein wohlklingendes Alibi verschafft zu haben.

An der unterschiedlichen Wahrnehmung des 23. August im Westen und im Osten Europas lässt sich exemplarisch ablesen, wie weit die verschiedenen historischen Gedächtnisse der Europäer noch immer voneinander entfernt sind.

Die Auswirkungen dieser fortbestehenden Teilung der Erinnerung auf den schwierigen Einigungsprozess Europas dürfen nicht unterschätzt werden.

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