Ein Auslieferungsgesetz würde Hongkongs Behörden erlauben, von China verdächtigte und gesuchte Personen an die Volksrepublik auszuliefern. Kritiker warnen, Chinas Justiz sei nicht unabhängig und diene als Werkzeug der politischen Verfolgung. Auch drohten Folter und Misshandlungen. Für diesen Sonntag ist erneut eine Demonstration angekündigt.
Worum geht es in dem Auslieferungsgesetz?
Die Regierung argumentiert, dass es bei der Auslieferung von Angeklagten Schlupflöcher gebe. Sie verweist auf den Fall eines jungen Hongkongers (nzz.ch), der im Februar des vergangenen Jahres seine Frau in Taiwan ermordet haben soll. Er floh nach Hongkong. Doch er kann nicht an Taiwan ausgeliefert werden, weil zwischen Hongkong und Taiwan kein Auslieferungsabkommen besteht. Durch dieses Schlupfloch sei Hongkong ein «sicherer Hafen» für Kriminelle, sagt die Regierung. Dieses müsse geschlossen werden.
Die Stadtregierung hat jetzt das Gesetz zwar offiziell nicht verworfen, aber auf unbefristete Zeitverschoben.
Das ist ein erstaunliches Einlenken. Zunächst verschob Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam die Parlamentsentscheidung über das umstrittene Auslieferungsgesetz. Aber die Demonstranten, die seit Tagen gegen das Vorhaben mobilmachen, gaben sich damit nicht zufrieden. Sie verlangten den gänzlichen Verzicht auf das Gesetz. Möglicherweise setzen sie sich damit durch.
Die Hongkonger leben seit 1997 in einer Sonderverwaltungszone, der ehemaligen britischen Kronkolonie, die offiziell nach dem Motto „Ein Land, zwei Systeme“ regiert wird. Sie haben sich nie der Illusion hingegeben, die Führung in Peking werde eine freiheitliche, demokratische Enklave in ihrem Reich dulden. Aber sie haben gehofft, einen Teil ihrer bisherigen Freiheitsrechte und den Rechtsstaat verteidigen zu können – zumindest bis zum Jahr 2047, wenn die mit Großbritannien vereinbarte Übergangszeit abläuft.
Am vergangenen Wochenende hatten nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen Hunderttausenden und einer Million (welt.de) Hongkonger gegen das Vorhaben der Regierung demonstriert. Danach war es am Mittwoch zu schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen, die offiziell als „Aufruhr“ eingestuft wurden. Die Sicherheitskräfte hatten Tränengas, Schlagstöcke, Wasserwerfer und Pfefferspray eingesetzt, um Tausende Demonstranten zu vertreiben.
Die Demonstration am vergangenen Sonntag war nach Einschätzung von Beobachtern die größte in Hongkong seit dem Protest gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking vor drei Jahrzehnten am 4. Juni 1989 (watson.de).
Es geht der Widerstand gegen das neue Gesetz quer durch die Gesellschaft. Menschenrechtsaktivisten, Kirchenvertreter, Geschäftsleute, aber auch ganz normale Bürger, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie zu denken und zu sagen haben: Sie alle befürchten, künftig nicht mehr sicher vor der chinesischen Justiz zu sein. Dass die Hongkonger Regierung nach Verabschiedung des Gesetzes frei von Einflussnahme über Auslieferungsgesuche Pekings entscheiden würde, glauben sie nicht. Der Druck auf die Gerichte könnte steigen. Die Pekinger Machthaber könnten mit fadenscheinigen Vorwürfen gegen unliebsame Personen in Hongkong vorgehen.
Im Moment ist nicht absehbar, wie lange die Konfrontation zwischen Volk und Regierung dauern wird. Klar ist hingegen, dass das Gesetz kaum abzuwenden sein wird. Vielleicht werden die Verhandlungen im Parlament weiter verzögert, mit größter Wahrscheinlichkeit wird es aber früher oder später verabschiedet werden. Wenn nicht in den nächsten Wochen, dann in ein paar Jahren. Wenn nicht in der heutigen Form, dann in einer anderen.
Peking wird nicht bis 2047 warten, Hongkong unter seine Kontrolle zu bringen. Die Sonderverwaltungsregion ist für die Machthaber eine Irritation. Das aufmüpfige Volk Hongkongs passt nicht zum Selbstverständnis der Kommunistischen Partei, in der ein enger Kreis von Spitzenfunktionären über die Geschicke des Landes entscheidet.
Das weckt Erinnerungen an die erniedrigende Epoche, als westliche Industriemächte dem geschwächten China mit ihrer militärischen Überlegenheit ungleiche Verträge aufzwingen konnten – so wurde Hongkong überhaupt einmal britisch. Peking muss eingestehen, dass Hongkong gerade deswegen erfolgreich ist, weil es nicht kommunistisch war und ist.