Ungefähr nach 100 Jahren wiederholt sich die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise. Die Frage, die man sich im Westen derzeit stellt, ist, wie man mit einer multikulturellen Gesellschaft am besten umgeht. Im Osten will man verhindern, dass eine multikulturelle Gesellschaft entsteht. Denn auch vor 100 Jahren gab es zwei Europas. Westeuropa war das ethnisch homogene Europa. Osteuropa war multikulti. Nur 66 Prozent der Bevölkerung Polens waren vor dem Ersten Weltkrieg ethnische Polen. Nach den zwei Weltkriegen gibt es wieder diese zwei Europas: ein multikulturelles Westeuropa und ein ethnisch homogenes Ost-Mitteleuropa. Heute sind mehr als 96 Prozent der Menschen, die in Polen leben, auch in Polen geboren. Nur vier Prozent der Bevölkerung Ungarns sind nicht in Ungarn geboren. Zum Vergleich Österreich: 16 Prozent der Menschen, die in Österreich leben, sind nicht in Österreich geboren. Im Westen geht es nun darum, dass die politischen und ethnischen Mehrheiten befürchten, dass sie nicht genug politische Macht haben werden, um ihre kulturelle Hegemonie bewahren zu können. Deshalb rückt die Frage der kulturellen Identität im politischen Diskurs in den Vordergrund. In Osteuropa ist das Problem ein völlig anderes. Ganze Landstriche sind durch Emigration in den Westen entvölkert. In Ungarn haben in den letzten zehn Jahren mehr Menschen das Land verlassen, als nach dem Einmarsch der Sowjets im Jahr 1956.

Niemandem, der im Sommer durch Westeuropa reist, wird es gelingen, nicht durch den Wohlstand, die Schönheit und die Lebensqualität des Kontinents beeindruckt zu werden. Letzteres ist in den Vereinigten Staaten – trotz des höheren Pro-Kopf-Einkommens – weniger offensichtlich, zum Teil deswegen, weil das Land größer und weniger dicht bevölkert ist: Die USA bieten dem Reisenden nicht das Spektakel einer tadellos erhaltenen Landschaft, die mit zahlreichen Schlössern, Museen, exzellenten Restaurants und Wi-Fi ausgestattet ist, wie man es in Frankreich, Italien oder Spanien erlebt. Man kann durchaus behaupten, dass noch nie jemand in der Menschheitsgeschichte so gut gelebt hat wie die Westeuropäer von heute.

Die Tatsache, dass die Europäische Union so prosperierend und friedlich im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn (Ukraine, Moldawien, dem Balkan, der Türkei) und – noch wichtiger – zum Nahen Osten und Afrika ist, bedeutet, dass sie ein Migrationsziel darstellt.

Die Einkommenslücke zwischen „Kern-Europa“ (der früheren EU der 15) und dem Nahen Osten und Afrika ist nicht nur gewaltig, sie ist sogar noch angewachsen. Heutzutage liegt das westeuropäische BIP pro Kopf nur knapp unter 40.000 internationalen Dollar (eine von der Weltbank berechnete Vergleichswährung). In Subsahara-Afrika liegt es bei 3.500 Dollar – eine Lücke von 11 zu 1. 1970 lag das BIP pro Kopf in Europa bei 18.000 Dollar, in der Subsahara-Region bei 2.600 – eine Lücke von 7 zu 1.

Angesichts der Größe der Einkommenslücke wird der Migrationsdruck für mindestens weitere 50 Jahre anhalten oder noch größer werden – selbst wenn Afrika in diesem Jahrhundert einen Aufholprozess zu Europa einleiten könnte (was bedeuten würde, stärker zu wachsen als die EU).

Europas Probleme sind echt. Und sie erfordern echte Lösungen.

Wenn wir sie angehen, dürfen wir die Realität nicht aus dem Auge verlieren. Nationalisten/Populisten „kuscheln“ gerne national. Wir machen die Grenzen dicht, hört es dann nicht auf, führen wir einen „kleinen Krieg“ – und der Irrtum dahinter, wir halten unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern, die wir gerade ausgrenzen, die uns aber über Handel den Wohlstand gebracht haben, aufrecht … Das ist ein Holzweg!

Die Realpolitiker differenzieren gerne zwischen politischer Verfolgung, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Sie verankern diese Unterscheidung in Gesetzen. Aller demokratischer „Anstrich“ hilft allerdings nicht. Hier wird die wesentliche Migrationsursache gesetzlich „weggelogen“, während wir noch nach Kategorien sortieren, steigt der Migrationsdruck weiter. Jeder der oben genannten Flüchtlinge – ob politisch, aus Kriegsgebieten oder wirtschaftlich – ist auch letzteres. Sie alle sind auch Wirtschaftsflüchtlinge. Ob wir das akzeptieren wollen oder nicht, es ist so!

Wir werden Geld in die Hand nehmen müssen, um die Fluchtursachen vor Ort zu beseitigen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wird aber immer wieder gerne ignoriert.

Europa, uneins wie es im Moment ist, liegt im Sterben. Wirtschaftlich betrachtet scharren andere Blöcke wie die USA, Russland und China mit den Hufen. Sie werden handeln und die Situation ausnutzen – zu unseren Lasten …

Im Endeffekt heißt das für uns, Migration als Tatsache zu akzeptieren und auch als Chance für die Zukunft zu begreifen.

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