In der Türkei gilt nach dem Putschversuch für drei Monate der Ausnahmezustand.
Ganze Familien, Bekannte und Verwandte werden froh sein, dass ihre Lieben nicht mehr vor Ort in der Türkei weilen. Fast muss man konstatieren, dass man sich glücklich schätzen muss, nicht mehr in der Türkei zu leben.
Die Türkei könnte ein lebensfrohes, buntes Land sein, mit seiner kulturellen Vielfalt, seinen schönen Städten, den herrlichen Küsten, den weiten Landschaften mit den Olivenhainen und Bergen und, vor allem, mit seinen vielen liebenswürdigen Menschen. Sie könnte ein prosperierendes Land sein. Mit den Gezi-Protesten im Sommer 2013, wo Menschen aus allen Schichten gegen den Autoritarismus von Präsident Erdogan protestierten und dafür beschossen, weggeprügelt und ins Gefängnis gesteckt wurden, wurde die Gefahr für die türkische Demokratie erstmals offenbar.
Jetzt der gescheiterte Putschversuch und in der Folge ein drei Monate geltender Ausnahmezustand, was nichts anderes ist, als das schamlose Aus-dem-Weg-Räumen aller Kritiker und Gegner von Erdogan. Bislang hat der Staatspräsident, der unbedingt eine Präsidialdemokratie einführen will und deshalb eine Verfassungsänderung fordert, autoritär geherrscht. Jetzt nimmt er diktatorische Züge an. Man werde sich, natürlich, an rechtsstaatliche Maßstäbe halten und die Demokratie stärken.
Die Realität sieht anders aus: Denunziantentum ist Bestandteil türkischer Regierungspolitik. Eine Diktatur lebt von der Denunziation politisch Andersdenkender. Das war schon immer so.
Macht: ohne Widerspruch, ohne Diskurs, ohne Kompromisse!
Die türkische Regierung hat bewiesen, dass es immer noch schlimmer kommt, als man denkt: die immer weitere Einschränkung des Alkoholkonsums; das Verbot roten Lippenstifts für Stewardessen bei Turkish Airlines; die räumliche Trennung von Studentinnen und Studenten in Wohnheimen; und so weiter, und so weiter.
Die Aneinanderreihung von Tiefpunkten ist so durchschaubar, so billig, so traurig: Erdogan glaubt, weil er mit knapp 52 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde, habe er nun die hundertprozentige Macht und müsse auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Dass Demokratie sich nicht auf das Abhalten von Wahlen beschränkt, sondern auch eine Vielzahl von Prinzipien wie Gewaltenteilung, Presse- und Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und vieles mehr beinhaltet, hat Erdogan nie verinnerlicht.
Erdogan giert nach kultischer Verehrung. Er will, dass die Menschen ihn feiern, ihm zujubeln, ihm zu Füßen liegen. Das haben schon die Pharaonen in Ägypten getan, nach ihnen viele Usurpatoren. Erdogan hat keine Vorstellung von Respekt. Er verwechselt dies mit Unterwürfigkeit, er will ein Volk von Speichelleckern. Das versteht er unter Respekt: Wenn seine Fans ihm zurufen: „Ein Wort von dir, und wir töten! Ein Wort von dir, und wir sterben!“ Eine Gesellschaft wie diese hat weniger ein politisches Problem, sondern vielmehr ein psychologisches. Ein auf diese Art dressiertes Volk lässt sich lenken – wie ein Schafherde. Dass das gefährlich ist, hat die Geschichte mehrfach bewiesen …
In der Türkei herrscht ein Klima der Angst. Niemand traut sich, Erdogan zu kritisieren. Viele denken darüber nach, das Land zu verlassen. Deutsche Freunde, die in Istanbul leben und derzeit Urlaub in Deutschland machen, haben ihre Rückreise auf unbestimmte Zeit verschoben. Türkische Freunde fragen nach Jobperspektiven im Ausland und wie man an ein Visum und eine Arbeitserlaubnis kommt. Hotels, Restaurants, Läden sind leer. Die Macht des einen kostet die wirtschaftliche Existenz vieler.
Das türkische Volk war mehrheitlich gegen den Militärputsch. Es hat demokratisches Verständnis bewiesen. Aber nun haben Erdogan und die Islamisten diese Entwicklung für sich besetzt. „Allahu akbar“-Rufe sind der allgegenwärtige Schlachtruf, die Muezzins liefern die Begleitmusik. Der politische Islam ist in der Türkei dabei, Atatürks bewährten Laizismus vom Sockel zu stoßen. Vor unseren Augen stirbt in der Türkei die Demokratie. Oder was davon noch übrig ist. Die Welt schaut zu. Nicht zuletzt hat die Türkei mit dem Braindrain zu kämpfen. Intellekt und Diktaturen vertragen sich nicht, Akademiker und Intellektuelle wandern frühzeitig ab. Anders ausgedrückt: Diktaturen schaffen eine Atmosphäre der Verblödung. Und wie heißt es schon in der Bibel: „Denn sie wissen nicht, was sie tun …“.