Vor wenigen Monaten feierte Deutschland den fünfundzwanzigsten Jahrestag der Wiedervereinigung, währenddessen in Zeitungen und Fernsehen an den Fall der Berliner Mauer erinnert wurde. Nebenbei wuchs in der Bevölkerung die Angst vor den Flüchtlingsströmen. In Ungarn wurden Grenzbarrieren errichtet, fatale Assoziationen mit dem Eisernen Vorhang. Gegen alle Argumente der historiografischen Migrationsforschung werden neue Mauern und verschärfte Grenzkontrollen reklamiert. Dabei wird auf den Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA, die „Tortilla Wall“, verwiesen, den mit Nato-Draht bewehrten Zaun an der Grenze zwischen Spanien und Marokko oder auf die 759 Kilometer langen Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland. Eine Wiederkehr der Mauern, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer erfolgreichen Schleifung?

Ohne Wasser keine Stadt! Vermutlich waren die legendären Mauern von Jericho – aus dem achten vorchristlichen Jahrtausend – gar keine Wehrmauern gegen kriegerische Nomaden, sondern Schutzwälle vor Überschwemmungen, die zugleich, wie am Nil, erwünscht waren. Schwemmland ist fruchtbarer Boden. Diese Vermutung zwingt sich bei Betrachtung der Mauern auf: Diese Mauern haben nach außen angelegte Treppen. Auch der 1952 freigelegte Rundturm von Jericho, über acht Meter hoch und mit einem Basisdurchmesser von ebenfalls über acht Metern, diente wohl nicht als Wachturm gegen Nomadenstämme, die mit Hörnerklängen den Einsturz der Stadtmauern bewirkt haben wollten (Josua 6, 1–25), sondern einerseits als Schutz gegen Fluten, andererseits vielleicht auch als Anzeige des Sommerbeginns, wie Archäologen der Universität Tel Aviv jüngst herausfanden. Der Schatten eines benachbarten Gipfels fällt nämlich just zur Sommersonnenwende auf den Turm.

Die ältesten Wehrmauern stammen aus dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend. Besonders imposant waren die Stadtmauern von Uruk, errichtet im ersten Viertel des dritten Jahrtausends: Die Anlage der Mauern – mit etwa neunhundert halbkreisförmigen Türmen – erreichte eine Länge von nahezu zehn Kilometern. Zu den Weltwundern des Altertums zählten auch die Mauern Babylons, die in der Regierungszeit Nebukadnezars um 600 v. Chr. durch einen zweiten Wall ergänzt wurden. Seither wurden immer wieder Doppelmauern errichtet: Sie trennten die Funktionen der Inklusion und der Exklusion, als wollten sie der Maxime architektonische Gestalt verleihen, dass mit Feinden nicht einmal Grenzen geteilt werden dürfen.

Doppelmauern erzeugten „Niemandsländer“, Zonen zwischen den Befestigungsanlagen, die im römischen Recht als „terra nullius“ bezeichnet wurden. Auch die Berliner Mauer war eine Doppelmauer: das Niemandsland zwischen beiden Mauern hieß „Todesstreifen“.

Die Erfindung der Stadtmauern wurde, im Gilgamesch-Epos, als eine bedeutende Innovation gepriesen. Denn gewöhnlich hatten es die Angreifer schwerer als die Verteidiger. Sie mussten ihre Versorgung logistisch organisieren, durch Nachschub oder Plünderungen, während die Stadtbevölkerung gefüllte Vorratsspeicher nutzen konnte. Die Fähigkeit, Hunger zu ertragen, entschied über Sieg oder Niederlage. Auch musste das Heerlager der Angreifer befestigt werden. Im siebenten Gesang der homerischen Ilias wird erzählt, wie die Griechen eine Mauer mit Türmen und Gräben um ihre Schiffe und Zelte errichteten, als sie schon zehn Jahre vor der uneinnehmbaren Stadt lagen, die zuletzt nur durch List erobert werden konnte. Vermutlich wurden nicht wenige Belagerungen abgebrochen. Und schlussendlich manifestierte sich der Zorn der erfolgreichen Angreifer in grausamen Massakern, was den langen Belagerungszeiten entsprang.

Die ersten Mauern, die nicht der Verteidigung, sondern der Evakuierung einer belagerten Stadt dienen sollten, ließen übrigens Themistokles und Perikles während des Peloponnesischen Bürgerkriegs errichten: Auf einer Strecke von fünf Kilometern verbanden die langen Mauern die Stadt Athen mit dem Hafen in Piräus.

Die Frage stellt sich, ob wir in unserer Zeit neue Mauern brauchen. Eigentlich nicht! Würde wir das Recht der Menschen auf Heimat respektieren, wäre niemand gehalten, zu flüchten. Offene Türen und Grenzen lassen uns uns frei bewegen. Wer kommt, geht wieder; und: nur wer geht, kann wieder kommen!

 

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