In Russland sind am Wochenende Lokalwahlen – doch diese sind nicht frei.
Das politische System kommt in die Jahre. Manche denken bei diesem Satz heute an die Demokratie. Aber viel besser passt er eigentlich auf Autokratien. Die Proteste gegen das Regime in Hongkong, die Rebellion der Istanbuler Wählerinnen und Wähler gegen den starken Mann in Ankara, der Volksaufstand gegen den venezolanischen Linksdiktator sprechen für sich. Jetzt am Wochenende lässt ein weiterer autoritärer Herrscher wählen: Wladimir Putin.
Die Russen bestimmen ihre Kommunalparlamente.
Bereits Mitte August hatten Zehntausende Menschen an einer Demonstration in der russischen Hauptstadt für demokratische Wahlen und gegen Polizeigewalt teilgenommen. Einmal mehr kam es zu massenhaften Festnahmen. „Annullieren Sie die Pseudowahlen, die für den 8. September angesetzt sind. Setzen Sie eine neue Abstimmung Ende des Herbstes an und garantieren Sie die Teilnahme der Opposition“, schrieb der Kremlkritiker Ilja Jaschin in dem bei Twitter veröffentlichten Brief aus seiner Arrestzelle (n-tv.de).
„Jeden Tag ein neuer Kinderspielplatz“ und „Jeden Tag 1200 Meter neue Wege“ – die Kremlpartei Geeintes Russland verspricht einiges vor der Wahl des neuen Parlaments der Krim. Am 8. September wird auch auf der Schwarzmeer-Halbinsel wie in anderen Regionen Russlands gewählt – ein Stimmungstest für Kremlchef Wladimir Putin.
In zwei Jahrzehnten an der Macht hat Wladimir Putin sein System auf Geheimdienst und Günstlinge zugeschnitten. Die eigene Bevölkerung erscheint als diffuse Bedrohung – jedoch: eine einheitliche Protestbewegung bleibt aus.
Wladimir Putin spricht eigentlich viel lieber über die Probleme anderer als über die daheim. Beim Treffen mit Emmanuel Macron auf dessen französischer Sommerresidenz letzten Monat ging der Kremlchef zum ersten Mal persönlich auf die Proteste in Moskau ein. Wer sich dabei nicht ans Gesetz halte, der würde zur Verantwortung gezogen, sagte er. Niemand habe das Recht die Situation bis ins Absurde zu treiben. Er wolle keine „Gelbwesten“ in Moskau haben. Die Proteste in Frankreich mussten in russischen Staatsmedien schon früher als Schreckensszenario herhalten (sueddeutsche.de, 20.08.2019).
Der Kreml erklärte stets, er halte die Proteste nicht für eine Krise und die harte Reaktion der Polizei sei gerechtfertigt. Dass die Machthaber in Moskau die Situation aber sehr wohl als Krise betrachten, zeigt das Arsenal an Gegenmaßnahmen, mit denen sie die Menschen von nicht sanktionierten Protesten fernhalten wollen. Sie gehen längst über die absurd hohe Zahl der Sicherheitskräfte hinaus, die sich den Demonstrierenden jeden Samstag gegenüberstellt.
Die Menschen in Moskau wählen am Sonntag ein neues Stadtparlament – Kandidaten der Opposition stehen aber nicht zur Wahl. Deswegen gehen seit zwei Monaten jeden Samstag Demonstranten auf die Straßen der 15-Millionen-Einwohner-Metropole. Sie protestieren gegen die Weigerung der Behörden, kritische Politiker zur Wahl zuzulassen – vergeblich. Nach Angaben der Wahlkommission fehlten den 57 Kandidaten der Opposition entweder die notwendigen Unterschriften, oder ihre Unterlagen hatten Formfehler.
Besonders hart gingen die Sicherheitskräfte bei zwei Demonstrationen vor, am 27. Juli und am 3.August. An beiden Tagen nahmen sie jeweils mehr als tausend Menschen vorübergehend fest (schwaebische.de). Die Behörden erklärten die Kundgebungen zu Massenunruhen. Einige Teilnehmer mussten Geldstrafen zahlen, gegen 20 Menschen wurde ein Strafverfahren eingeleitet.
Der massive Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte bei den teilweise verbotenen Kundgebungen für faire Wahlen muss mann als Zeichen zunehmender Nervosität bei Kremlchef Wladimir Putin, der seit 20 Jahren in wechselnden Positionen das Ruder in Russland in der Hand hält, werten. Kommunalwahlen sind eine der wenigen Möglichkeiten in Russland für Putin-Kritiker, sich in der Politik zu engagieren. In der Duma, dem russischen Unterhaus, gibt es faktisch keine Opposition mehr.
Die Zivilgesellschaft im Land hat gelernt, sich zu vernetzen. Immer mehr einst politisch Passive wollen Verantwortung übernehmen, wollen wenigstens im Kleinen zeigen, dass sie etwas bewegen können. Sie wollen den Sprung aus der immer noch stark verankerten sowjetischen Kollektivität in die Individualität wagen. Die Drohkulisse des Staates aber ist intakt. Die politischen Spaziergänge der Unzufriedenen ziehen sich stets am Moskauer Boulevard-Ring entlang. Sie drehen sich buchstäblich im Kreis. Auch im politischen Sinne.
Die anstehenden Wahlen werden wohl wieder – wenn auch in kleinerem Rahmen – zu „Zarenkrönungen“ führen.