Es geschah vor 50 Jahren: Es waren die Zeiten der „68er“. Am 11. April 1968 wurde in Berlin eine der führenden Figuren der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, von dem Neonazi Josef Bachmann durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt.

Dutschke war nicht bloß ein wortgewaltiger Student. Er war für viele das Symbol des Protests einer Generation junger Menschen, die den Staat nur noch als reaktionär empfanden. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967, erschossen von einem Polizisten bei Protesten, der Vietnamkrieg, die wenig aufgearbeitete Zeit des Nationalsozialismus, die Große Koalition in Bonn, die eine außerparlamentarische Opposition auf der Straße provozierte, in diesem Reizklima fielen die Schüsse.

Dieses Reizklima hatten Zeitungen des Springer-Konzerns noch befeuert, allen voran die BILD. „Stoppt den Terror der Jungroten jetzt“, forderte das Blatt. Das Gesicht dieser Attacken war Dutschke. Er redete in abstrusem Soziologen-Deutsch, war in der linken Szene keineswegs unumstritten, aber seine Leidenschaft, sein stechender Blick, gaben ihm enorme Ausstrahlung. Wortführer für die einen, Hassfigur für die anderen.

Dieses Attentat und die darauf folgenden, teilweise gewalttätigen Demonstrationen veranlassten den damaligen Bundesjustizminister und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zu einer außergewöhnliche Fernsehansprache. Damit gelang es dem überzeugten Christen und Sozialdemokraten, die explosive Stimmung in Westdeutschland zu befrieden.

Die Rede zeigte eindrucksvoll, wie Politiker dazu in der Lage sein können, sich feindlich gegenüberstehende Bevölkerungsgruppen anzusprechen – und gleichzeitig die eigene politische Überzeugung zu vermitteln.

Eine solche Rede eines führenden Politikers hätte man sich in den vergangenen Jahren gewünscht – zum Beispiel nach den Terroranschlägen im Juli 2016: der Angriff eines Islamisten in der Regionalbahn in Würzburg, das Massaker eines rechtsradikal eingestellten Jugendlichen in München, der Sprengstoffanschlag eines Islamisten in Ansbach. Eine Rede, die auf Feindesrhetorik und Ausgrenzung verzichtet, die eigene Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen nicht verschweigt und die vor allem das herausstellt, worauf sich alle Bürgerinnen und Bürger verständigen können: die Grundwerte unserer Verfassung. Heinemann betont nicht, wer und was zur Gesellschaft gehört oder nicht. Dafür stellt er die Würde des Menschen in den Mittelpunkt – nicht die des Deutschen.

Diese Tonlage ist heutzutage vielen Politikern abhandengekommen. Aber auch nach 50 Jahren lässt sich von ihr lernen, wie in einer aufgeheizten gesellschaftspolitischen Situation mit Konflikten umgegangen und das in den Mittelpunkt gestellt werden kann, was für ein friedliches Zusammenleben unabdingbar ist: die Vielfalt der Meinungen und der Lebensweisen, die im strittigen Diskurs der Klärung bedürfen, ohne die Menschenwürde zu verletzen. Vor allem aber sollten wir uns ein Beispiel am letzten Satz der Heinemann-Rede nehmen: die gesellschaftliche Auseinandersetzung so zu führen, dass daraus ein Gewinn für alle erwächst. In diesem Sinn sollten wir alles dafür tun, dass der notwendige Streit, die heißen Debatten, die Klarheit der Positionen dazu führen, dass wir uns gemeinsam die Demokratie und ihre Möglichkeiten neu aneignen – genauso, wie dies ab 1968 trotz aller Fehlentwicklungen der Fall war. Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot – nehmen wir es an.

Rudi Dutschke ließ sich 1970 in Arhus, Dänemark, nieder. Er musste mühsam wieder Sprechen und Lesen lernen. Aber letztlich kostete ihn das Attentat doch noch das Leben. Weihnachten 1979 erlitt er in seiner Badewanne einen epileptischen Anfall, Spätfolgen der Schussverletzungen. Dutschke ertrank. Er wurde 39 Jahre alt.

Viele dieser Probleme begleiten unsere Republik bis heute wie ein Schatten: die Bedrohung durch Rechtsradikalismus und Neonazismus, eine sich entgrenzende Gegenwehr von linken Seite, eine ebenso emotionalisierende wie entpolitisierende Pressepolitik und die undurchsichtige Rolle, die hier der Staat wieder einmal mit einem seiner Geheimdienste gespielt hat.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert