Herkules

Die Statue des Helden,

da steht sie!

Sehen wir uns nicht alle so?

Alle irgendwo ein bisschen Held,

im Alltag, in der Straße?

Kopflos ist sie geworden,

die steinerne Statue.

Was mag dem Helden widerfahren sein?

Wer hat ihm Form gegeben?

Ihn erschaffen, nach seinem Bilde?

Die Muskeln ausgearbeitet,

den schönen Körper entwickelt?

Wer schenkte ihm Klugheit

und den Verstand?

Wo sind sie hingekommen, jetzt,

da er kopflos geworden ist?

Wann fing der Heroe an,

sich von seinem Erschaffer abzuwenden,

selbständig sein Schicksal zu bestimmen?

Getrieben von Eifer,

sich gefallend in Manieriertheit?

Hat er doch vielleicht den Blick verloren,

für Notwendigkeiten und Gefahren?

Wir hoffen alle, ein bisschen

Dorian Gray zu sein.

Jugend zu kaufen, Alter zu veräußern.

Mögen die anderen altern,

am liebsten verbannten wir es im Bilde!

Hybris kommt bekanntlich vor dem Fall.

Der Blick in den vorgehaltenen Spiegel

muss grausam gewesen sein!

Wann haben wir begonnen,

falschen Wein aus

falschen Gläsern zu trinken?

Nichts davon gemerkt und festgestellt,

dass uns plötzlich die Worte fehlten?

Ausgesprochen, ausgeeifert, ausgelebt?

Wie viele hohle Worte

regnen auf uns herab?

Tag für Tag? Ich weiß es nicht.

Zoon politikon …

Dankend für das Gespräch,

neige ich das Haupt vor Herkules.

Ziehe von dannen,

durch die Gänge des Museums.

Kalte Mahnung,

aus den Tiefen der Vergangenheit,

begleitet mich …

Haben Sie schon einmal so einer Marmorstatue gegenübergesessen und deren Aura auf sich wirken lassen? Nein?! Nun, ich tat es vor einiger Zeit. Es war irgendein Museum in irgendeiner Stadt. Vor mir der Torso einer Figurengruppe. Es ist eigentlich nur der Herkules geblieben, um ihn herum ranken irgendwelche Arme und Finger, Reste von Figuren, die wohl einst nach ihm griffen oder um ihn herumtanzten. Eine Marmorkopie einer griechischen Statue. Das Original ist wohl längst zerstört, der Zahn der Zeit ist unerbittlich. Da liegt er auf seinem Felsen so, als räkele er sich in einem Wohnzimmersessel. Ist es Wohlbefinden oder Schmerz in seinem Gesicht? Ich weiß es nicht, was diesen nackten Halbgott im Moment bewegt, versuche es zu ergründen. Irgendwie fühlt er sich beobachtet, schweigt. Er will mit mir sein Innerstes nicht teilen. Nein, ich bin ein Fremder, in jeglicher Hinsicht. Ich möchte in seine Zeit, sein Innerstes, seine Geheimnisse eindringen. Es ist ihm unangenehm, man kann es spüren. Wer mag ihn aus dem Steinblock befreit haben, welcher Künstler? Ein römischer Handwerker? Eine Auftragsarbeit für einen reichen Patrizier? Auch das weiß ich nicht. Was sich mir offenbart, ist sein Äußeres. Und das ist makellos, sieht man von den Schrammen der Jahrhunderte ab. Krauses Haar, man würde heute sagen „ungepflegt“, ein Bart. Die Augen halb geschlossen, so als wolle er gar nicht sehen, was da vor sich geht. Eine typisch griechische Nase, selbst die Lippen sind sehr gut herausgearbeitet, soweit der Bart einen Blick auf sie erlaubt. Hals, Oberkörper, Arme, Beine, ja selbst die Zehennägel sind dargestellt. Es ist dem Steinmetz gelungen, der Figur Leben einzuhauchen. Ich stehe auf von der Bank des Betrachters, nähere mich ihm. Jeder Muskelstrang scheint bis zum Zerreißen gespannt, man möchte die Haut berühren. Ich sehe über meine Brille, während ich mit der Hand über den linken Unterarm streiche. Ich suche die Poren der Haut, um sogleich den Kopf zu schütteln und in mich reinzulachen. Nein, soweit ging es dann doch nicht. Ein wahres Kunstwerk, ein Meisterstück! Entlassen aus einem Marmorblock, wie der Geist aus der Flasche. Mit Demut und Bewunderung, einem letzten Blick auf meinen Gesprächspartner, verabschiede ich mich und gehe weiter.

Was ist es, das die Bildhauer seit Ewigkeiten besitzen, das einem schreibenden Menschen fehlt?! Quält einen nicht öfter die sogenannte Schreibblockade? Ich kann ihn immer erkennen, diesen Block aus Buchstaben. Er ist sehr groß, ein rechteckiges Chaos aus Lettern. Ich möchte diesen Buchstaben, die ich seit meinen Schulanfängen kenne, Leben einhauchen, sie zu Worten und Sätzen formen. Warum bleibt zu oft am Ende einer Geschichte der Eindruck, dass man es doch nur zu einem oberflächlichen Torso gebracht hat? Ein unvollendetes Werk, vielleicht sogar eine tote Figur? Wer will diese betrachten? Ja, eigentlich muss sie kein Fremder sehen. Man schreibt aus der Phantasie heraus, genau wie der Bildhauer von dort aus beginnt, den Stein zu bearbeiten. Befreit man die Dinge aus ihrem Gefängnis, den Geist aus der Flasche, beginnen diese zu atmen. Der Atem des Lebens! Ist es nicht so, dass wir beide – der Bildhauer und ich – unser Alter Ego uns gegenüberstellen, ihm Leben einhauchen, um ein Zwiegespräch mit diesem zu beginnen? Schreibt oder klopft man wirklich für Fremde? Die wenigsten werden das nach einigem Nachdenken behaupten können. Das „Vor-Augen-führen“ ist der Dreh- und Angelpunkt. Je besser man sein Innerstes darstellt, behaut oder beschreibt, umso klarer kann man sich selbst in die Augen sehen. Wenn ich schlecht schreibe, gehe ich schludrig mit mir selbst um. Einerseits ein vielleicht hartes Urteil. Andererseits ist es eine Auftragsarbeit des inneren Ichs – und da wollen wir nicht pfuschen. Mein Meisel, die Feder, liegt vor mir. Es liegt am Autor, der Geschichte Leben einzuhauchen. Kann es überdauern? Wer weiß! Auch die Römer haben Kopien der griechischen Kunst gefertigt, dank derer wir uns ein Bild der Originale machen können, von jenen, die schon längst verschwunden sind. Und so sitzt man heute in Museen auf Bänken und kann mit den Nachkommen sprechen. Sie erzählen aus der Tiefe der Vergangenheit. Eine jede Statue hat ihre Geschichte. Man braucht deren einstige Begleiter nicht vor Augen, einige Finger oder andere Körperteile berichten uns von deren Anwesenheit. Auch sie hören uns zu. Das Auge erfasst, der Geist ruft sie herbei. Diese Zeilen eines heutigen Zeitgenossen seien all den Mäzenen der Vergangenheit gewidmet, vor denen ich mich untertänig verbeuge. Hammer und Meißel in Händen betrachte ich diese Werkzeuge und denke mir: „ Hau Dir bloß nicht auf die Finger!“.