Das Schlagwort von der „offenen Gesellschaft“ ist derzeit in aller Munde. Die Kanzlerin erwähnt es oft. Man dürfe sie im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht opfern, sagte die Bundeskanzlerin unter anderem im April dieses Jahres. Im November auf dem Integrationsgipfel erwähnte sie den Begriff bewusst angesichts des Wahlerfolgs von Donald Trump.

Als Bedrohung erscheinen nicht nur Islamisten, sondern auch Rechtspopulisten und die Renaissance autoritärer Machthaber. Zu den selbsternannten Verteidigern der „offenen Gesellschaft“ gehören neben der Kanzlerin zum Beispiel auch der Stellvertretende EU-Kommissionpräsident Frans Timmermans, der, vom Handelsblatt angesprochen auf Trump, Le Pen und Wilders, von einer „ideologischen Konfrontation“ sprach. Es ginge „darum, ob wir eine offene Gesellschaft wollen oder eine geschlossene“. Botschaft: Die Europäische Kommission ist eine Bastion der offenen Gesellschaft.

Es war der 13. März 1938, der Tag von Adolf Hitlers Einmarsch in Österreich, als Popper, ein Wiener mit jüdischen Wurzeln, im neuseeländischen Exil beschloss, sein Buch über die Feinde der offenen Gesellschaft zu schreiben. Sieben Jahre später, im Jahr 1945, als der Krieg in Europa zu Ende ging, ist das Buch erschienen. „Ich hatte es geschrieben als meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Seine Tendenz war: gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin“, erzählt der Autor: „Ich verabscheute die Namen beider so sehr, dass ich sie in meinem Buch nicht erwähnen wollte.“ Freiheit kann ungemütlich werden!

Dass Aufklärung und Zivilisation im Lauf der Zeiten Freiheit und Wohlstand für alle bringen und im Maße der Fortschrittsgeschichte auch die letzten Spuren einer Herkunft der menschlichen Gattung aus Armut und Barbarei überwinden würden, war die im Nachhinein als gefährlich sich erweisende Illusion des liberalen Zeitalters. Dass das Böse immer noch präsent ist, war 1945 jedermann offenbar geworden, der sehen konnte. Bis heute habe sich die Menschheit nicht von ihrem Geburtstrauma erholt, schrieb Popper: vom Trauma des Übergangs aus der Stammes- oder „geschlossenen“ Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur „offenen“ Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen freisetzt. Freiheit kann ungemütlich werden, kann Angst machen, kann Menschen überfordern und die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine geschlossene Gesellschaft nähren, die alle ihre Kraft dazu verwendet und verschwendet, sich nach außen abzuriegeln.

Der Schock dieses Übergangs von der geschlossenen in die offene Gesellschaft, der den Menschen bis heute in den Knochen sitzt, ist, so Popper, der entscheidende Faktor, der immer wieder jene reaktionären Bewegungen ermöglicht, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr der Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Wer meint, das Böse sei ein für allemal überwunden, weil doch jeder Vernünftige einsehen müsse, dass und wie er von einer offenen Welt profitiere, in der er nach seinen Wünschen leben, frei sein und reich werden kann, und dass jedermann schon aus purem Egoismus diese Freiheitsrechte allen anderen ebenfalls zubilligen müsste, sieht sich getäuscht. Die Zivilisation hat ihren universalistischen Anspruch nie durchsetzen können. Die Aufklärung wird die Barbarei nicht los. Sie hängt an ihr wie ein Teufel; das ist die darin bestehende Dialektik. Der Kampf für die Freiheit ist ein ewiger, nie endender.

Trauer und Schrecken über den Terror kennt viele Ausdrucksformen. Lesen hilft! Man sollte Popper (wieder) lesen, nach Ereignissen wie dem „Kriegsakt“ (François Hollande) der Schreckensnacht vom 13. November 2015. Wer kann angesichts dieses Grauens noch behaupten, die Geschichte habe einen Sinn. Lange nicht mehr seit 9/11 war Poppers These so einleuchtend. „Karl Popper hat keine Ethik geschrieben, aber er war ein Moralist“, meinte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Helmut Schmidt, gestorben am 10. November 2015, den man selbst früher als geistlosen Macher abtat, war ebenfalls ein Moralist. Den Philosophen Karl Popper hat er zeitlebens gelesen, geschätzt, gar bewundert. Man kann es als Schmidts Auftrag und Erbe betrachten, in diesen unsicheren Zeiten auf Popper zu zeigen.

Wer der Weltgeschichte einen Sinn zuschreibe, beleidige jede sittliche Auffassung der Menschheit, so Popper. Denn die Geschichte der Machtpolitik sei nicht besser als wenn man die Geschichte des Raubes oder des Giftmords zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Mit anderen Worten: Angesichts von Schrecken, Barbarei und allem Übel von Sinn sprechen zu wollen, verbietet sich ein. Nicht besser kommen bei Popper auch jene Utopisten von Plato bis Marx weg, die zwar das barbarische Jammertal zur Kenntnis nehmen, aber darauf hoffen, dass wir dereinst einmal in einem irdischen Paradies leben werden und ein Sinn der Geschichte darin bestünde, als Menschheit diese Fortschrittsanstrengung in die Hand zu nehmen.

„Diese Behauptung ist Lästerung“: Zukünftige Machthaber und Massenmörder scheren sich nicht um unsere „bescheidenen“ zivilen Angelegenheiten.

Bewahren wir das Gut der „offenen Gesellschaft“ im Namen der Zivilisation!