Nachdem die Hochschulen die letzten zehn Jahre hindurch bei der Gestaltung von Studiengängen durch Akkreditierungsagenturen gegängelt wurden, gilt seit der Kritik des Bundesverfassungs-gerichts an der Akkreditierungspraxis unter den Wissenschaftsministern das Motto „Kommando zurück!“.
Aber wie viel Weisheit kann man hier bei der Gestaltung der Studiengänge erwarten?
Angesichts der heftigen Kritik an der Bologna-Reform haben die Wissenschaftsminister in den letzten zehn, zwölf Jahren immer darauf verwiesen, dass die Grundidee der Bologna-Reform hervorragend gewesen sei, dass es aber an der Umsetzung in den Hochschulen gehapert habe. Die Ideen des Reformkonzepts seien in allzu rigider Weise umgesetzt worden.
Ein erster Punkt, an dem die Hochschulen die Bologna-Vorgaben zu rigide umgesetzt haben, ist die detailgenaue Vorgabe von Studieninhalten. Die Verschulung des Studiums und die Tendenz zum „Bulimie-Lernen“ ist in der Grundstruktur von Bologna angelegt. Mit der Einführung von Zeiteinheiten als Berechnungsgrundlage für die Studienganggestaltung – den sogenannten ECTS-Punkten – und dem Zwang, für jedes Modul detaillierte Lernziele zu definieren, wurden die Dozenten angehalten, jede Lernstunde eines Studenten vorauszuplanen. Aber die Freiräume, die trotz dieser Vorgaben noch möglich gewesen wären, wurden an vielen Hochschulen nicht genutzt.
Ein zweiter Punkt, an dem die Professoren eine deutliche Tendenz zur Übererfüllung der Bologna-Vorgaben zeigen, betrifft die Anzahl der Prüfungen je Semester. Schon die Einhaltung der „ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen“ führt zu einer erheblichen Zunahme von Prüfungen. Weil nach diesen Vorgaben jedes Modul mit einer Prüfung abgeschlossen werden muss, ergeben sich bei kleinen Modulgrößen automatisch fünf oder sechs Prüfungen, die Studierende per Semester ablegen müssen. Das war für Fächer wie unter anderem Betriebswirtschaftslehre, die vorrangig über Klausuren prüfen, nicht problematisch. Für andere Fächer wie Geschichtswissenschaft, Philosophie oder Soziologie war die Prüfungsflut jedoch verheerend. Weil es in letzteren unmöglich ist, je Semester sechs Hausarbeiten zu schreiben, wurde vielfach auf didaktisch weniger geeignete Prüfungsformen wie Multiple-Choice-Klausuren oder Referate zurückgegriffen.
Der dritte Punkt, an dem die Kultusministerkonferenz eingreifen will, ist die Frage, welche Noten für die Ausstellung von Bachelorzeugnissen relevant sind. Die Bologna-Erklärung der europäischen Wissenschaftsminister sah keineswegs vor, dass jedes Modul zu benoten und jede Note für das Abschlusszeugnis relevant ist. An den meisten Hochschulen beschlossen die Fakultäten jedoch, dass bereits die Noten der ersten Semester in das Abschlusszeugnis eingehen sollten.
Würde man dieses Benotungsmodell auf Schulen übertragen, bedeutete das, dass die Noten der fünften Klasse mit ins Abiturzeugnis eingehen und deshalb eine Drei in Deutsch in der fünften Klasse darüber mitentscheidet, ob jemand später Medizin studieren kann oder nicht. Der paradoxe Effekt dieser Benotungspraxis ist nicht zu übersehen. Teils wurde die Bedeutung der Bachelorarbeit so weit herabgesetzt, dass die Note dieser früher als akademisches Gesellenstück geltenden Arbeit genauso viel zählt wie die Note eines mündlichen Gruppenreferats. Das wollen die Wissenschaftsminister ändern!
Die Frage ist, ob Professoren überhaupt ein Interesse hatten, Studiengänge durchzukonzipieren. Hochschullehrer seien – so ein Vorurteil – durch ihre Forschungsarbeit absorbiert, könnten mitunter keine „ausreichende Kreativität“ und „intellektuelle Energie“ auf die Gestaltung vernünftiger Bachelorstudiengänge verwenden. Vor der Bologna-Reform waren die gleichen Professoren allerdings in der Lage, eine Reihe von ganz manierlichen Magister- oder Diplomstudiengängen zu bieten, wo sie jetzt einen Studiengang nach dem anderen in den Sand setzten.
Der Grund für die Fehlentwicklungen ist nicht, dass Hochschullehrer zu unengagiert für die Planung von Studiengängen sind, sondern dass diese unter Bologna-Bedingungen an selbst-produzierter Komplexität erstickt. Das Missverständnis der Wissenschaftsminister liegt darin, dass sie das Problem in den Detailstrukturen zu finden glauben und durch Nachjustierung im Detail zu beheben suchen, während in Wahrheit der Fehler im ECTS-Systems selbst steckt.
Nur die Abschaffung der ECTS-Punkte würde wieder eine Freiheit schaffen, mit der sinnvoll über Einzelfragen wissenschaftlich diskutiert werden kann.