Der Kapitalismus ist zu produktiv für sich geworden. In der Ära des ehemaligen Präsidenten Bill Clinton kam es zu einer explosionsartigen Ausweitung der Finanzmärkte. Die Schuldenberge, unter denen jetzt Europa zusammenbricht, ermöglichen es dem System, eine Zeit lang auf Pump zu leben. Da die Defizitfinanzierung des Systems nicht mehr aufrechterhalten werden kann, setzt eine Dynamik ein, bei der immer mehr Volkswirtschaften und Bevölkerungsgruppen in Marginalisierung und Elend gestoßen werden – ein Großteil der gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der EU kreist um die Frage, welche Euroländer denn nun auf das Niveau von Dritte-Welt-Staaten mittels des Sparterrors abstürzen sollen. Die kollabierenden Märkte verlangen derzeit von den südeuropäischen Euroländern nichts weniger als den ökonomischen Selbstmord.
Aus der letzten Krise von 2008 sind wir eigentlich nicht richtig herausgekommen. Anders ausgedrückt: Die Welt der Wirtschaft und des Business ist seitdem nicht mehr die gleiche. Der „ökonomische Sachzwang“ tritt sukzessive an die Stelle demokratischer Willensbildung. Wir erleben nur den bisherigen Höhepunkt einer Aushöhlung demokratischer Freiheiten. Auf die Krise des Kapitals reagierte insbesondere die deutsche Gesellschaft mit einer totalen Unterwerfung unter die Kapitallogik. Und hierbei gibt es tatsächlich systemimmanent keinen anderen Ausweg als das Bemühen, möglichst viele Produktionsstandorte in der mörderischen globalen Konkurrenz zu halten, indem die gesamte Gesellschaft entlang der Anforderungen der Wirtschaft ausgerichtet wird.
Wie weit geht eine Demokratie, die am Tropf der Wirtschaft hängt?!
Im Endeffekt unterwirft sich die Gesellschaft der Diktatur des Sachzwanges, der aus dieser Krisenkonkurrenz resultiert: es geht darum, möglichst billig, mit größtmöglicher Produktivität zu produzieren, um andere Wettbewerber – andere Standorte wie Volkswirtschaften – in dem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb auszuschalten. Hierbei werden Bildung, Kultur und Medien ökonomisiert, wodurch die Räume demokratischer Willensbildung und Reflexion erodieren und unter anderem Kunst zum Büttel der Wirtschaft wird. Diese Diktatur des Sachzwangs kann exemplarisch an den Hartz-IV-Gesetzen nachvollzogen werden, die Zwangsarbeit in der bundesrepublikanischen Demokratie einführten und gesetzlich legitimierten.
Vor der Gesellschaft türmen sich mit zunehmender Krisenintensität diese Sachzwänge immer dichter auf, der tatsächliche Spielraum der Politik wird immer enger, bis diese zu einem reinen Vollzugsorgan der Wirtschaft wird. Die globale Krisenkonkurrenz sorgt dafür, dass diejenigen Standorte und Volkswirtschaften, die sich diesem totalitären Ökonomismus verweigern, schnell ins ökonomische Hintertreffen geraten. Diese deindustrialisierten südeuropäischen Volkswirtschaften – unter anderem Griechenland – reagierten mit den nun kollabierenden Verschuldungsprozessen auf die Krise.
Da die Reproduktion der gesamten kapitalistischen Gesellschaft von dem Kapitalverhältnis abhängt, müssen alle anderen Momente des menschlichen Zusammenlebens vor dieser Maxime der Geldvermehrung weichen – die Diktatur des kapitalistischen Sachzwanges ist somit eine objektive Begleiterscheinung der Krise des Kapitalismus. Die Tendenz zum Demokratieabbau ist nicht auf Machenschaften bestimmter konservativer Politiker oder des Sicherheitsapparates zurückzuführen, sondern auf den wirtschaftlichen Kreisprozess selbst. Der Ausbau des Überwachungs- und Polizeiapparates ist ein autoritärer Reflex auf die zunehmenden sozialen Verwerfungen, die der Krisenprozess mit sich bringt.
Je stärker die Krisendynamik zur Ausbildung kommt, desto kleiner das Manövrierfeld der Politik und desto geringer die Nischen, in denen man noch Zuflucht vor dem allgegenwärtigen Ökonomismus finden könnte. Mit zunehmender Krisendauer greift eine totalitäre Ökonomisierung der Gesellschaft immer weiter um sich. Alles wird auf seine Finanzierbarkeit untersucht und dem Verwertungsinteresse des Kapitals untergeordnet.
Das Kapitalverhältnis – das über uns herrscht, obwohl wir es selber alltäglich buchstäblich erarbeiten – ist ein selbstbezüglicher, blinder Prozess, der nur die höchstmögliche und sicherste Verwertung zur einzigen Maxime hat. Es ist blind für die gesellschaftlichen Folgen seiner uferlosen Selbstvermehrung. Die Menschen müssen sich dieser Gegebenheit, diesem Sachzwang anpassen, um in dieser Gesellschaft zu überleben. Genau dies aber lässt Demokratie in ein Spannungsverhältnis zum Kapitalismus treten, und letztendlich zur Illusion verkommen.
Dieser Selbstwiderspruch der kapitalistischen Demokratie lässt auch das totalitäre Potenzial in unserer Gesellschaft fortbestehen.