Das Ansehen der Türkei in Washington ist auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Nicht einmal die Weigerung des Parlaments 2003, dem US-Militär türkische Stützpunkte für den Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein einzuräumen, hat das Verhältnis so zerrüttet wie die Inhaftierung türkischer Mitarbeiter der amerikanischen Konsulate, die am Ende einer langen Reihe gegenseitiger Verletzungen steht. In einem beispiellosen Akt stoppten die USA vor Tagen die Ausstellung von Reisevisa für Türken auf unbestimmte Zeit, die Türkei reagierte sofort mit der gleichen Maßnahme.

Topuz war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seit mehr als einem Jahr sitzt der amerikanische evangelikale Pastor Andrew Brunson ebenfalls wegen Gülen-Kontakten und angeblicher Spionage in Untersuchungshaft. Bereits im März diesen Jahres war ein türkischer Mitarbeiter des US-Konsulats in Adana unter Terrorvorwürfen verhaftet worden. Und trotz der massiven Reaktion der US-Regierung auf den Fall Topuz lenkte die islamisch-konservative AKP-Regierung bisher nicht ein. Letzten Dienstag erließ ein Gericht in Istanbul Haftbefehl gegen einen weiteren US-Konsulatsmitarbeiter wegen Gülen-Verdachts.

Jetzt wurde noch die Türkei-Reporterin des Wall Street Journals, Ayla Albayrak, wegen einer journalistisch korrekten Reportage von 2015 über den Kurdenkonflikt in der Türkei zu zwei Jahren Haft wegen „Terrorunterstützung“ verurteilt. Die überwiegend regierungsnahen Medien überbieten sich derweil in antiamerikanischer Hetze und beschuldigen die USA, hinter dem Putschversuch zu stecken. Sie können sich dabei laut Umfragen auf eine Mehrheit von 80 Prozent in der Bevölkerung stützen.

Unterdessen sind sich die verbliebenen türkischen Oppositionszeitungen mit westlichen Analysten einig, dass es Ankara darum geht, Druck auf Washington auszuüben. Im Fall des Pastors Brunson hat Erdogan tatsächlich einen Tauschhandel gegen den Sektenführer Gülen, den die USA bisher wegen unzureichender Beweise nicht ausliefern, angeboten. Außerdem verübelt Ankara den USA deren Unterstützung und Bewaffnung der kurdischen YPG-Miliz in Syrien.

Hinzu kommt die aus westlicher Sicht bedenkliche Annäherung der Türkei an Russland. Ankara hat kürzlich das russische Raketenabwehrsystem S-400 bestellt. Mit der Visasperre packt Washington die verbündete Türkei nun de facto in die Kiste der „Schurkenstaaten“ Nordkorea, Iran oder Somalia – ein historisch einmaliger Vorgang.

Vorbei sind die Zeiten, als US-Präsident Donald Trump nach einem Treffen mit Erdogan erklärte, die Beziehungen der beiden Länder seien „so eng wie nie zuvor“. Doch selbst die Erdogan-treue türkische Tageszeitung „Sabah“ kommentierte, dass die Spannungen schwer und „strukturell“ seien. Tatsächlich sind die wirtschaftlichen Folgen der Visa-Krise verheerend. Der Leitindex der Istanbuler Börse sackte teilweise um 4,7 Prozent ab, die Türkische Lira verlor zwischenzeitlich 6,6 Prozent ihres Werts gegenüber dem Dollar.

Trotzdem mäßigte sich Präsident Erdogan bisher nicht in seinem antiamerikanischen Ton, auch wenn er versucht, die Schuld an der Krise allein dem US-Botschafter in Ankara, John Bass, zuzuschieben. „Wir betrachten ihn nicht als Botschafter der Vereinigten Staaten“, sagte er und warf der US-Regierung vor, die strategische Partnerschaft mit der Türkei für einen sogenannten „frechen Botschafter“ zu opfern. Er behauptete, dass US-Präsident Trump von „faulen Eiern“ im Außenministerium – antitürkischen Mitarbeitern der früheren Obama-Regierung – hintergangen werde. Eine Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums stellte dagegen umgehend klar, dass der Botschafter die volle Rückendeckung der US-Regierung besitze.

Nicht nur nationalistische türkische Zeitungen glauben, dass Erdogan die Spannungen absichtlich verschärft, weil er getrieben ist von der Angst, dass im demnächst startenden New Yorker Prozess gegen den türkisch-iranischen Goldhändler und Iran-Embargo-Verletzer Reza Zarrab brisante Enthüllungen zu einem internationalen Haftbefehl gegen ihn und seine Familie führen könnten. Sein könnte auch, dass er deshalb nun versucht, durch Geiselnahmen dessen Freilassung zu erwirken, nachdem bisherige Versuche, in der Sache auf Trump einzuwirken, gescheitert sind.

Zwar sind sich die meisten Beobachter einig, dass beide Seiten jetzt versuchen werden, die Krise einzudämmen. Anfang der Woche ließ ein Istanbuler Gericht die kürzlich festgenommene Frau und Tochter des gesuchten türkischen US-Konsulatsmitarbeiters aus dem Polizeigewahrsam frei; die USA lockerten den Visabann für medizinische und humanitäre Notfälle.

Aber es werden Verletzungen bleiben.

Die Beziehungen der beiden Länder sind vermutlich nicht mehr reparabel, man hat sich „auseinandergelebt; da sind sich die Experten einig.

Die Türkei sollte sich auf harte Zeiten einrichten. Sie wird die Westanbindung dauerhaft brauchen.