Die Bedeutung des Wortes „Richtlinienkompetenz“ kann man in Artikel 65 unseres Grundgesetzes nachlesen. Dort ist festgelegt, dass Bundeskanzler Scholz die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt. Er hat dafür quasi die Kompetenz bzw. Zuständigkeit. Scholz steht damit in einer Reihe mit Konrad Adenauer. Seit dem ersten Kanzler der Bundesrepublik hat kein Regierungschef seinen Punkt mehr so klargemacht wie Scholz bei den Atomkraftwerken: per Brief an seine Minister und mit explizitem Verweis auf seine Richtlinienkompetenz. Im Streit über den Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wies Adenauer seine Minister 1956 in einer „Direktive“ an,
die Integration Europas „mit allen in Betracht kommenden Mitteln zu fördern“ und dies als „Richtlinie der Politik der Bundesregierung zu betrachten und danach zu verfahren“ (faz.net). Auch sonst ermahnte er seine Minister im Kabinett regelmäßig, entzog ihnen Kompetenzen und ließ keinen Zweifel daran, wer die Richtung vorgab: ausschließlich er!
Dass sowohl Wirtschaftsminister Habeck als auch Finanzminister Lindner das Vorgehen des Bundeskanzlers klaglos akzeptierten, zeigt, dass beide erleichtert waren, heil aus ihren selbst geschaufelten Schützengräben herauszukommen. Man kann getrost davon ausgehen, dass beide nicht nur über diesen Schritt des Kanzlers
informiert, sondern auch damit einverstanden waren. Fragt man sich also, wer aus diesem Streit als Sieger hervorgeht, lautet die Antwort: alle! Der Einsatz der Richtlinienkompetenz ist mehr als ein Machtwort des
Regierungschefs, wie Scholz ́ Parteigenossen immer wieder betont hatten. Das „Kanzlerprinzip“ (stern.de, 18.10.2022) ist gewissermaßen die vorletzte Machtoption vor der Vertrauensfrage, wenn ein Kompromiss ausweglos erscheint und der Problemlösung nicht mit milderen Mitteln beizukommen ist. Scholz ́ Machtwort erstreckt sich nur auf den Kreis der Bundesregierung. Die Richtlinienkompetenz markiert verfassungsrechtlich die Sonderstellung des
Bundeskanzlers im Verhältnis zu den Ministern: Er ist der Regierungschef!
Deshalb beinhaltet sie unumstritten das Recht des Bundeskanzlers, in politischen Grundsatzfragen Führungsentscheidungen zu treffen, bei denen sich das Kabinett als Ganzes nicht einig wird. Denn bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesministern soll vorrangig die Bundesregierung als Kollegium entscheiden (Art. 65 Satz 3 GG). Der Bundeskanzler und seine Minister/-innen bilden gemeinsam das Kollegialorgan der Bundesregierung (Kollegialitätsprinzip). In gewisser Hinsicht ist der Kanzler damit „le premier ministre“, also Erster unter Gleichen. Das war nicht immer so: Nach der Reichsverfassung von 1871 war der Reichskanzler der einzige verantwortliche Minister. Im Verhältnis zu den Staatssekretären, die die verschiedenen Ämter – nicht Ministerien – wie das sogenannte Auswärtige Amt leiteten, waren Bismarck und Nachfolger nicht lediglich primus inter pares, sondern weisungsbefugt. Das änderte sich erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919, nachdem die Oktoberreformen von 1918 bereits eine teilweise Kollegialisierung der Reichsleitung verfolgt hatten. So hat Art. 65 GG sein unmittelbares historisches Vorbild in dem geradezu wortgleichen Art. 56 WRV.