Wählerwille
Annalena Baerbocks Auftritt auf einer Podiumsdiskussion in Prag sorgt weiter für Diskussionen. Auf Englisch hatte die Ministerin dort gesagt, dass sie den Ukrainern Unterstützung zugesagt habe und dass sie ihnen beistehen wolle, solange es nötig sei – unabhängig davon, was ihre deutschen Wähler darüber denken („no matter what my German voters think“ deutschlandfunkkultur.de, 03.09.2022). Die Ansicht, der Wählerwillen müsse (für Frau Baerbock) oberste Priorität haben, kann so nicht uneingeschränkt gelten. Der Wählerwille artikuliert sich in den Wahlen. Die Regierung hinterher tut Dinge, die der Wähler im Moment der Wahl nicht wollte. Machte man es anders, könnte man
einfach Meinungsumfragen regieren lassen. Der Weg zum Populismus wäre geebnet … (Ursula Weidenfeld, Journalistin, a.a.O.).
Schnell verbreiteten sich nach dem Interview kurze Videoausschnitte von Baerbocks langer, auf Englisch gehaltener Antwort in den sozialen Netzwerken. In einer Telegram-Gruppe war ein Clip mit der Bemerkung versehen: „Die deutsche Außenministerin verspricht, dass die Ukraine an erster Stelle komme, ́egal, was deutsche Wähler denken` oder wie hart ihr Leben wird“. (nzz.ch). Auf Twitter wurde ein entsprechendes Video 1,7 Millionen Mal aufgerufen. Ein User versah es mit der Einleitung, dass in der Demokratie das Volk die Staatsgewalt ausübe, und stellte dem
Baerbocks Äußerungen zugespitzt gegenüber -für sie käme die Ukraine zuerst, egal, was ihre deutschen Wähler dächten. Fakt ist, dass das verbreitete Video erkennbar geschnitten ist. Andere Accounts etwa auf Telegram erweckten zudem den Eindruck, Baerbock seien die Folgen der Sanktionspolitik für die deutsche Bevölkerung egal. Tatsächlich versprach sie aber sowohl den Deutschen als auch den Ukrainern die Solidarität des deutschen Staates.
Es ist richtig, dass prorussische Kanäle Baerbocks Aussagen verkürzt wiedergegeben haben. Dennoch bleibt ihre Aussage bestehen, die Ukraine unabhängig von der Zustimmung ihrer deutschen Wähler unterstützen zu wollen.
Zur Verteidigung der Ministerin zur Verteidigung ist darauf hinzuweisen, dass es in der repräsentativen Demokratie gerade keine imperativen Mandate gibt. Staatspolitische Verantwortung drückt sich zudem mitunter auch darin aus, als richtig Erkanntes trotz mangelnder demoskopischer Unterstützung durchzusetzen. Dennoch ist der Ministerin hier wohl ein kommunikativer Lapsus unterlaufen. Baerbocks Aussage ist inhaltlich kein Skandal. Dass eine Politikerin an dem, was sie als richtig erkannt hat, festhalten will, selbst wenn die Umfragen zwischenzeitlich mal in den Keller rutschen sollten, ist kein Amtsmissbrauch, sondern ehrenwert (merkur.de, 08.09.2022). Dass es nicht selten andersrum läuft und aus Angst vor dem Unmut der Wähler nicht oder falsch gehandelt wird, ist einer der Gründe dafür, dass manche Probleme immer größer werden – zum Beispiel in der Rentenpolitik. Gerade deswegen entscheiden in einer Demokratie am Ende immer die Wähler, nur eben nicht täglich, sondern alle vier oder fünf Jahre. Der Verfassungs- und Gesetzgeber hat sich bei den Wahlperioden offensichtlich etwas gedacht. Und das ist gut so …
Die vollständige Antwort der Ministerin – aus welcher der Satz propagandistisch herausgerissen wurde – findet sich in deutscher Übersetzung u.a. auf TELEPOLIS, heise.de vom 02.09.2022.