Nationalismus in Europa? Galt das übersteigerte Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation nicht längst als überwunden? Verkörpert nicht die Europäische Union eine Wertegemeinschaft, die nationale Grenzen überwindet und ihren Bürgerinnen und Bürgern Freiheit und Frieden auf der Basis gemeinsamer politischer Prinzipien garantiert? Aktuelle Entwicklungen in Europa zeigen, dass die Europäische Union kein Garant für die Eindämmung von Nationalismen darstellt. In vielen Ländern sind nationalistisch geprägte Parteien und Agenden erneut erfolgreich.

So war die Überwindung des Nationalismus der Grundkonsens für eine neue europäische Ordnung nach 1945 und für die Realisierung weltpolitischer Großprojekte wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. In den 1990er Jahren wuchs angesichts des Zerfalls Jugoslawiens die Furcht vor einer Rückkehr zum Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg. Gegenwärtig sehen wir eine scheinbar instabile Europäische Union und das Erstarken von Populismus und nationalistischen Ideen als Indizien für eine Rückkehr zum Weimarer Nationalismus der Zwischenkriegsjahre.

Was die nationale Vielfalt betrifft, war der Osten also schon einmal so reich, wie der Westen heute gerne sein möchte. Dem aufgeklärten, sich nationalstaatlich zurüstenden Westen von 1900 galt der ethnisch durchmischte Osten jedoch als welthistorisch rückständige Provinz, gerade weil er noch nicht vom Geist des Nationalstaats erfasst worden war (sueddeutsche.de, 19.11.2019). Rückständig mutet vielen von uns der Osten auch heute an, und zwar just, weil manche Staaten dort nachzuholen versuchen, was der Westen schon längst hinter sich hat. Sie sind also schon wieder zu spät dran.

Nationalismus ist inakzeptabel, und er muss in die Schranken gewiesen werden. Wissenschaftlich beruhte die Diskussion der 1990er Jahre größtenteils auf einer noch älteren Nationalismusforschung, die mit den Namen Ernest Gellner, Benedict Anderson oder Eric Hobsbawm verbunden ist (.Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991 (1983); Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 2007 (1983)). Sie alle haben ihre grundlegenden Arbeiten bereits in den 1980er Jahren geschrieben; damals vor allem in Reaktion auf jene große Welle des Nationalismus, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar weniger Europa, aber umso mehr die sogenannte Dritte Welt beherrschte, als koloniale Grenzen und Zugehörigkeiten in moderne, nationale übersetzt werden mussten, was in den wenigsten Fällen konfliktfrei geschah.

Nationalismus war nach 1945 so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Schlachten zweier Weltkriege und die extremen Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bringen ließen. Der Nationalismus, vermitteln Schulbücher bis heute, habe in den Ersten Weltkrieg geführt, kehrte danach in nochmals radikalisierter Form wieder, um schließlich – angereichert mit antisemitischen und rassistischen Ideologien – auch in den Zweiten Weltkrieg zu führen.

Die EU ist nicht gescheitert. Aber die Gemeinsamkeiten schrumpfen, der Nationalismus wächst. Nach der Wende von 1989/91 gab es, getrieben auch durch die Balkankriege, die Hoffnung, die EU könne so etwas werden wie die hiesige Version von Francis Fukuyamas End of History: ein liberal verfasstes Bündnis auf dem Weg zum Bundesstaat, das all die neuen Demokratien im Osten sozialisieren würde (sueddeutsche.de, 06.07.2019). Eine gemeinsame Währung, das Verschwinden der Grenzen, überstaatliche Organisationen waren die Symbole dafür.

So schlecht kann das heute doch nicht sein …

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