Ob Flüchtlingsfrage oder Corona-Krise: Politiker stecken im Dilemma. Zwischen Prinzipientreue und Pragmatismus. Der Soziologe Max Weber gab ihnen mit der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ein hilfreiches Instrument in die Hand.
Mit seinem Wort von der „Entzauberung der Welt“ durch die neuzeitliche Rationalität eröffnete Max Weber einen neuen Blick auf die Moderne. Vor hundert Jahren, am 14. Juni 1920, starb der Vordenker der Soziologie in München an der Spanischen Grippe.
Weber hat ein gewaltiges Oevre hinterlassen, ein zersplittertes und fragmentarisiertes Werk von einschüchternder Monumentalität. Gar nicht so einfach, da den Überblick zu bewahren. Und gar nicht so einfach, in einigen wenigen Sätzen zu sagen, worum es im Kern des Weberschen Denkens überhaupt geht.
Eine Antwort auf seine Fragen fand Weber in der Religionssoziologie. Es sei der asketische Protestantismus der Calvinisten und anderer puritanischer Gruppierungen gewesen, der die Entstehung des modernen Kapitalismus begünstigt habe, so Webers berühmte, bis heute umstrittene These (deutschlandfunkkultur.de).
Weber gilt als einer Gründerväter der Soziologie und schrieb Bahnbrechendes in den Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Gerade seine religionssoziologische Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ machte Max Weber bekannt – und sie wird bis heute kontrovers diskutiert. Selbst sein monumentales Hauptwerk, „Wirtschaft und Gesellschaft“ erschien erst posthum. Vor seiner Fertigstellung starb er am 14. Juni 1920 mit gerade 56 Jahren in München an der Spanischen Grippe, der ersten Pandemie der Moderne.
Die Lebensspanne des 1864 in Erfurt geborenen Weber umfasst damit die epochalen Umbrüche auf dem Weg in die Moderne. Die Industrielle Revolution und die Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik verändern das Gesicht der Welt. Und die großen Ideologien von Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus treten in Konkurrenz zu religiösen Weltvorstellungen.
Max Weber hat sein gewaltiges Werk für alle diejenigen geschrieben, die ihr Leben unter den Bedingungen der Modernität zu führen haben – also für uns. Wir, die wir in die kapitalistische, bürokratische, entzauberte Welt hineingeworfen worden sind, sind die eigentlichen Adressaten von Webers Schaffen.
Mit der Frage nach der Möglichkeit von Freiheit schließt Weber zum einen an Marx, zum anderen an Nietzsche an. Wie seine kongenialen Vorgänger teilte er die Überzeugung, dass der freien Lebensführung rein theoretisch nichts im Wege stehe – allein: Kapitalistische Großbetriebe, bürokratische Herrschaftsformen und Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch setzten eine „Prämie auf die Anpassungsfähigkeit“ (nzz.ch) aus.
Wer sich deren Maximen anpasse, werde mit Geld, Status oder einem guten Gewissen belohnt, was für gewöhnlich dazu führe, dass sich die große Mehrheit der Menschen weniger den eigenen als vielmehr den fremden Maximen unterwerfe.
Der Biograf Jürgen Kaube sieht in Weber den „nach Luther und Goethe vermutlich meisterforschten deutschen Intellektuellen“ (br.de).
Nicht alles in Webers Biografie fügt sich bruchlos zusammen. Seine letzte große Lebensleistung: im Hochverratsprozess gegen die Akteure der Münchner Räterepublik bescheinigt der dezidierte Revolutionsgegner Weber dem Revolutionär Ernst Toller „absolute Lauterkeit“ (wikipedia.org) – was den Angeklagten wohl vor der Todesstrafe bewahrte.
Diese Bruchstellen in Leben und Denken machen die Beschäftigung mit dem großen Soziologen unseres Landes spannend.
Eines von Webers Erklärbildern war: Er vergleicht die moderne Gesellschaft mit einer Straßenbahn, deren Passagiere auch dann vorankämen, wenn sie nicht wüssten, welche physikalischen Gesetze sie in Bewegung hielten. Ähnlich verhalte es sich mit anderen Errungenschaften der Zivilisation: „Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin“ …