Zum dritten Mal binnen vier Monaten haben gestern in der Ukraine Wahlen stattgefunden. Diesmal waren die Ukrainer dazu aufgerufen, das Parlament, die Werchowna Rada, neu zu wählen. Erneut triumphierte Wolodimir Selenski, der im Frühjahr neu gewählte Präsident und politische Aussenseiter. Seine in Windeseile entstandene Partei Diener des Volkes (Sluha Narodu) gewann die Wahl überlegen, wie erste Auszählungen zeigten. Demnach entfielen auf ihre Parteiliste gut 42 Prozent der Stimmen. Alle anderen Parteien mussten sich, wie erwartet, mit weitaus bescheideneren Ergebnissen begnügen. Die nach Russland ausgerichtete Oppositionsplattform Für das Leben erhielt danach 11 bis 12 Prozent und wurde damit zweitstärkste Partei. Es folgen die Partei Europäische Solidarität des früheren Präsidenten Petro Poroschenko und die Partei Vaterland (Batkiwschtschina) von Julia Timoschenko. Auch die Partei Stimme (Holos) des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk überwand die Fünf-Prozent-Hürde (nzz.ch).
Es ist das erste Mal seit der Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepublik, dass eine Partei eine absolute Mehrheit innehat. Beobachtern zufolge wurde eine ganze Generation von Abgeordneten abgewählt, die in den vergangenen 20 Jahren das politische Geschehen bestimmte.
Erste Reaktionen aus dem Nachbarland Russland waren verhalten. Selenskyj müsse noch politische Reife zeigen, schrieb der Außenpolitiker Konstantin Kossatschow. „Die politische Kindheit und Jugend ist für Präsident Selenskyj somit beendet. Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung“, so der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Oberhaus (zeit.de).
Seit der Wende 1991 hatte noch kein Präsident und keine Partei in der Ukraine ein solches Mandat bekommen wie Wolodimir Selenski und seine gerade erst aus dem Boden gestampfte Partei Sluha Narodu, zu Deutsch: „Diener des Volkes“. Die Politik hat verstanden, dass die Ukrainer einen Neuanfang wollen. Die Mehrheit allerdings hat nicht die Nachahmer gewählt, sondern das Original: Selenskis Protestpartei.
Viele Wähler der „Diener des Volkes“ haben für einen Wechsel gestimmt, da sie sich eine Wiederannäherung an Russland wünschen. Viele Ukrainer sind zudem des Krieges im Osten des Landes überdrüssig.
Unterstellungen, Selenskyj selbst sei für eine Wiederannäherung an Russland, sind falsch (handelsblatt.com). Das haben seine ersten politischen Schritte seit der Amtseinführung Ende Mai deutlich gemacht. Er will sein Land in die EU und in die NATO führen. Doch ob die Ukraine jemals dort ankommt, hängt nicht nur von Europa ab. In Brüssel ist die Lust auf Neuaufnahmen gering. Doch ebenso fraglich ist, ob die Ukraine jemals die Auflagen Voraussetzungen erfüllt, um EU-Mitglied zu werden.
Selenskyj hat angekündigt, nicht mit den „alten Kräften“ zusammenarbeiten zu wollen.
Nicht nur Regierung und Fraktion müssen sich künftig koordinieren – auch Selenskyj wird sich eine neue Rolle suchen müssen. Vor laufenden Kameras weiter Beamte abzukanzeln wie zuletzt, wird nicht reichen. Er muss Ergebnisse liefern, vor allem gegen die Korruption im Land vorgehen, die Wirtschaftslage verbessern, für Frieden im Donbass sorgen, in dem seit über fünf Jahren gekämpft wird und fast jeden Tag Menschen sterben. Der Präsident kann diese Fragen nicht alleine entscheiden, er muss sich abstimmen – mit Geldgebern wie dem Internationalen Währungsfonds, mit Russland. Auch, um die gefangenen Landsleute, darunter die Seeleute von Kertsch, nach Hause zu holen, wie er es versprochen hat.
Die Rolle des Premierministers sei die eines „professionellen Ökonomen“, sagt Selenskyj, er hat genaue Vorstellungen von seinem Ministerpräsidenten: Er müsse ein unabhängiger Mensch sein, jemand, der nie Premier, Parlamentspräsident oder Fraktionsführer im Parlament war. Wakartschuk sehe er in dieser Rolle eher nicht. Als mögliche Kandidaten werden unter anderem Olexander Danyljuk gehandelt, der wirtschaftsliberale Reformer und frühere Finanzminister war ins Selenskyj-Lager gewechselt, oder der Chef des Gasunternehmens Naftogaz, Andrij Kobolew (SPON).
Russland käme es sehr gelegen, wenn sich die Ukraine in eigenen Widersprüchen verheddern würde. Was Kremlchef Putin gar nicht brauchen kann für seine Herrschaft, die unter wirtschaftlicher Stagnation und politischer Depression leidet, ist eine freie, prosperierende, demokratische und agile Ukraine. Die aber muss das Land werden, wenn Europa ihretwegen weiterhin Russland die Stirn bieten soll mit Sanktionen gegen Moskau und Milliarden-Hilfen für Kiew.