Seit der Antike ist der Glaube verbreitet, im Spiegel sei die wahre Seele der Menschen zu erblicken. Der Aberglauben von gestern ist im Internet von heute Realität geworden: Die Social-Media-Reaktionen auf das Feuer von Notre-Dame spiegeln, was in den Köpfen und Herzen vor sich geht.

Im Internet macht ein neuer Typ Verschwörungstheorie die Runde. Ziel ist nicht das Widerlegen, sondern das Delegitimieren. Attackiert wird gezielt die Glaubwürdigkeit von Menschen und Institutionen mit gesellschaftlich tragenden Rollen – also die freie Presse, Universitäten oder Regierungseinrichtungen.

Notre-Dame brannte noch keine Stunde, und schon fanden sich auf Twitter die ersten Nutzer mit Erklärungsansätzen. Eine Folge der Dacharbeiten, spekulierten einige. Vielleicht ein Kabelbrand, mutmaßten andere. Man müsse eben abwarten, hieß es. Doch während viele über die Ursachen rätselten und gleichzeitig fassungslos zusahen, wie sich die Flammen erbarmungslos durch den Dachstuhl der 800 Jahre alten Kathedrale fraßen, breitete sich in den sozialen Netzwerken etwas anderes mindestens genauso schnell aus wie das Feuer: Verschwörungstheorien und Desinformation über die Brandursache.

Wer die Entwicklung auf Twitter mitverfolgte, konnte beobachten, wie sich in dieser Zeit drei Erzählstränge verbreiteten: zum einen die Behauptung, dass Isis für den Brand verantwortlich sei. Dann ein Narrativ, welches den Brand der Kathedrale mit früheren Kirchenschändungen in Frankreich in Verbindung zu setzen suchte. Zuletzt fand sich immer wieder die Behauptung, dass Muslime in Paris und weltweit die Zerstörung der Kathedrale feierten. Die Urheber dieser Geschichten waren Verschwörungstheoretiker, antimuslimische und rechtsextreme Aktivisten, vor allem aus den USA (nzz.ch). Der Impetus hinter allen drei Narrativen: den Eindruck erwecken, dass Muslime schuld am Brand der Kathedrale seien; Beweise waren aber keine vorhanden.

Notre-Dame ist bei weitem nicht das einzige Beispiel für solche Attacken auf unsere Wahrnehmung der Realität. Auch nach Amokläufen oder anderen tragischen Ereignissen quillt das Internet regelmäßig mit Desinformationen über. Doch verbindet man die vielen Einzelstücke, zeichnet sich allmählich ein Muster ab (Nancy Rosenblum/Russel Muirhead, Politikwissenschaftler, in „A Lot of People Are Saying“). Man bezeichnet das als „new conspiracism“ (a.a.O.).

Der neue Verschwörungstheorismus zeichnet sich nicht durch aufwendige Präsentation vermeintlicher Beweise oder elaborierter Theorien aus. Stattdessen wird, wenn überhaupt, nur auf einzelne Fundstücke verwiesen und im Übrigen mit suggestiven Aussagen vom Schlage „Es ist kein Geheimnis, dass …“ oder „Da kann man sich schon fragen …“ gearbeitet (nzz.ch).

Der russische Propagandasender Russia Today verbreitete über den Kirchenbrand in Paris schließlich über Twitter und Facebook die These, dass der Brand nur eine Fortsetzung einer Reihe von Angriffen auf christliche Kirchen in Frankreich sei. Der Sender nutzt den Brand aus, um seine Grundthese vom Verfall des guten Lebens in Europa zu untermauern (welt.de). All diese Behauptungen entbehren jeder Faktengrundlage – doch reichen aus, um eine Stimmung der Unsicherheit zu schüren, nicht zuletzt da sie von rechten Populisten fleißig weiter verbreitet werden.

Das nachträgliche Blocken solcher Beiträge hilft nur bedingt. Denn ihr Zielpublikum erreichen sie bereits innerhalb der ersten zehn oder zwanzig Minuten nach der Publikation. Helfen können nur automatische Vorabfilter – doch die wiederum liegen aktuell noch, siehe YouTube, schlicht daneben.

Die Rezeption diverser Internet-Seiten sagt über sie, ihre Inhalte „fragwürdig“, „rechtsextrem“ oder „verschwörungstheoretisch“, größtenteils historisch unhaltbar sind.

Deshalb sei davor gewarnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. Beim World Trade Center wurde behauptet, es wäre ein Experiment (kenfm.de) gewesen. Vielleicht kommt man ja auf die Idee, dass der Brand von Notre-Dame dann auch ein solches Experiment war. So lang nichts bestätigt ist, sollte man Ruhe bewahren. Nur mit kühlem Kopf kann man Fake News und anderen Nonsens erkennen.

Aber Verschwörungstheorien zu Notre-Dame gibt es auch in andere Richtungen. Am Ende gilt wirklich: Warten wir auf bestätigte Meldungen und prüfen Sachverhalte, bevor wir irgendwas in die Runde hauen, was sich nicht beweisen lässt.

Aber dafür hätte es dieses Großbrandes nicht bedurft, oder?!

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