Drei Jahre hält die Diskussion über Flucht und Asyl schon an. Nun hat Friedrich Merz noch einen Aspekt gefunden, der irgendwie neu und überraschend klingt: Wenn man eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik wolle, dann müsse man bereit sein, „über dieses Asyl-Grundrecht offen zu reden“. Artikel 16a Grundgesetz – so Merz – stehe einer europäischen Lösung im Weg, weil es „dann immer noch ein Individualgrundrecht auf Asyl“ im EU-Mitgliedsstaat Deutschland gebe. Was letztlich darauf hinausliefe, das Asylgrundrecht einzuschränken oder ganz zu streichen. Steht das deutsche Asylrecht einer europäischen Lösung im Weg?
Nein! Im Gegenteil, mit der Änderung im Jahr 1993 ist das Asylrecht von Deutschland nach Europa ausgelagert worden. Auf den Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ kann sich seither nicht mehr berufen, wer über einen EU-Mitgliedsstaat eingereist ist, was bei Flüchtlingen in Deutschland praktisch immer der Fall ist. Das deutsche Grundrecht ist dadurch praktisch längst bedeutungslos geworden, weil es von den europäischen Regeln überlagert wird.
Das Asylgrundrecht in unserem Grundgesetz gilt nur für politisch Verfolgte, also für Menschen, die Opfer einer staatlichen oder quasistaatlichen Verfolgung sind. In der EU ist Artikel 18 Grundrechtecharta maßgeblich, der wiederum auf die Europäischen Verträge sowie auf die Genfer Flüchtlingskonvention verweist, die beispielsweise ein Zurückschieben an der Grenze untersagt. Letztlich wird damit auf europäischer Ebene auch Bürgerkriegsflüchtlingen subsidiärer Schutz gewährt. Europa bietet hier also mehr Schutz als das enger gefasste deutsche Asylgrundrecht – allerdings eben nicht zwingend in Deutschland.
Das Asylrecht der Bundesrepublik wird – anders als in vielen anderen Staaten – nicht allein aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat Verfassungsrang. Im Grundgesetz steht in Artikel 16a, Absatz eins: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Damit zieht das Grundgesetz die historischen Lehren aus der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft.
Angesichts der Zahlen ist der Vorschlag von Merz, das Asylrecht in Frage zu stellen, kaum relevant. Artikel 16a Grundgesetz kommt nur sehr selten zur Anwendung. So wurden von Januar bis Oktober 2018 von insgesamt 186.886 Anträgen gerade einmal 2.403 positive Asylentscheidungen auf Basis des Grundgesetzes erteilt (deutschlandradio.de). Das sind 1,3 Prozent. Die meisten erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder einen eingeschränkten, will heißen, subsidiären Schutz. Das gilt für Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in der Heimat „ernsthafter Schaden“ droht – wie Folter, Todesstrafe oder willkürliche Gewalt in einem bewaffneten Konflikt (br.de).
Die ursprüngliche Aussage, die Merz missverstanden wissen will, ist eigentlich sehr eindeutig:
„Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, in dem ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung verankert ist!“. Ist das so?
Nein, ist es nicht. Die Präambel der Französischen Verfassung beispielsweise gewährt ein Recht auf Asyl, anerkannt vom Verfassungsrat im Jahr 1980. Auch die italienische Verfassung gewährt ein Asylrecht, ähnlich die portugiesische, und zwar für Ausländer und Staatenlose, die etwa wegen ihres Eintretens für Demokratie und Frieden „in schwerwiegender Weise bedroht und verfolgt werden“ (sueddeutsche.de).
Merz meinte ausschließlich den Artikel 16a des Grundgesetzes. Er sei seit langem der Meinung, dass offen darüber geredet werden müsse, ob dieses Asylgrundrecht „in dieser Form fortbestehen“ könne, wenn eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ernsthaft gewollt sei.
Die Aussage ist Unsinn (Thomas Oberhäuser, Asylrechtsexperte gegenüber watson). Die Diskussion, die Friedrich Merz da anzustoßen versucht, würde am Ergebnis nichts ändern. Selbst, wenn es so wäre, das Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung verankert ist, würde eine Streichung dessen die Situation von Schutzberechtigten nicht verändern. Auch ohne Artikel 16a Grundgesetz stünde all diesen Menschen ein Recht auf Schutz zu. Es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, die das nahezu identische Individualrecht auf Schutz verbürgt.