Als Präsident Erdogan für den 24. Juni vorgezogene Wahlen für die Türkei ausrief, war eine Sorge in Deutschland besonders groß: Hält er sich an das Wahlkampfverbot für ausländische Amtsträger, das vergangenen Sommer erlassen worden und kaum verhohlen auf ihn gemünzt war? Oder sucht er wieder die Konfrontation? Zu frisch waren die Erinnerungen an den Wahlkampf vor dem türkischen Referendum im vergangenen Jahr, als Erdogan und sein Umfeld Deutschland mit Nazi-Vergleichen überzogen. Zum Ende der Türkei-Wahl in Deutschland – wo die Wahllokale am Dienstagabend schließen sollten – ist klar: Dieses Mal ist einiges anders.
Im Gegensatz zu Putin hat Erdogan jene Schwelle, ab der es bei Wahlen keinen ernsthaften Rivalen mehr gibt, noch nicht erreicht. Die Wahl am nächsten Sonntag könnte aber nach dem Referendum vergangenes Jahr der nächste große Schritt auf diesem Weg sein. Beim Referendum ließ Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten abschaffen – und den Präsidenten mit ungekannter Machtfülle ausstatten.
Schon bei der Gründung der Türkei hieß es: Es gibt nur einen Staat, ein Land, eine Fahne, eine Sprache, ein Volk und eine Religion, und das sagt Erdogan immer wieder. Die HDP steht gegen diese Vereinheitlichung. Sie propagiert, die Türkei werde erst dann demokratisch, wenn alle ihre Ethnien, Religionen und Kulturen anerkannt werden. Deshalb haben viele Türken diese Partei gewählt.
Das Urteil renommiertester Wirtschaftsexperten des Landes ist vernichtend. Sie sehen das Land in einem sehr schlechten Zustand. Jenes habe sich in den ersten Jahren unter Erdogan wirtschaftlich zwar stark entwickelt, aber nach den Gezi-Protesten und dem gescheiterten Putsch habe Erdogan alles zurückgenommen, was er der Türkei gegeben habe. Die Menschen sind müde von der AKP-Regierung. In den ersten zehn Jahren war die AKP die Partei der Hoffnung und Visionen, sie hat die Türkei verändert. Aber heutzutage ist Panikmache ihre einzige Taktik.
Die Opposition wittert deshalb erstmals seit Jahren Morgenluft. Der Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, kann Erdogan rhetorisch das Wasser reichen und begeistert Zuhörer mit seiner Schlagfertigkeit. Nach mehr als 15 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang. Ein müder Mann könne die großen Probleme der Türkei nicht lösen, sagte er kürzlich. Es brauche frisches Blut. Tatsächlich wirkt Erdogan in diesem Wahlkampf manchmal, als leide er unter dem Phänomen, das er selber Teilen seiner AKP attestiert hat: Materialermüdung!
Erdogan wird bei der Präsidentenwahl am Sonntag unter den sechs Kandidaten die meisten Stimmen gewinnen, daran lassen Umfragen keinen Zweifel. Offen ist aber, ob er am 8. Juli in die Stichwahl muss – die AKP bereitet sich darauf vor. Der Gegenkandidat hieße dann wohl Ince, er könnte auf die Stimmen von Erdogan-Gegnern auch aus anderen Lagern als dem der kemalistischen CHP setzen.
Aus Sicht von Erdogans Gegnern könnte es die letzte Chance sein, die von ihnen befürchtete „Ein-Mann-Herrschaft“ zu verhindern. Nicht nur die EU ist hochgradig besorgt über die Lage in der Türkei: Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ließ die Regierung Zehntausende Menschen inhaftieren oder aus dem Staatsdienst entfernen. Die meisten Medien stehen unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung. Journalisten und Oppositionelle wurden unter fragwürdigen Terrorvorwürfen inhaftiert. Bis heute gilt der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand, unter dem Erdogan per Dekret regiert – und unter dem nun gewählt werden wird.
Der dramatische Wertverlust der Lira in den vergangenen Monaten und die hohe Inflation haben aber schon jetzt dazu geführt, dass die Wirtschaft für die meisten Wähler das dominierende Thema ist. Lösungen hat Erdogan kaum zu bieten, sieht man davon ab, dass er die Bevölkerung dazu aufrief, ersparte Devisen in Lira umzutauschen. Stattdessen verspricht er neue Stadien, Parks und Volkskaffeehäuser, in denen Kaffee, Tee und Kuchen rund um die Uhr gratis sein sollen. „Panem et circenses“!
In vielen Ländern – auch in der Türkei – wird mittlerweile Politik mit Hilfe der Angst gemacht. Das treibt die Wähler in die Arme der Populisten und radikalen Parteien. Wenn man das Angstproblem löst, kann man all diese totalitären Politiker loswerden. „Angst ist eine globale Krankheit, die wir heilen müssen. Und weil sie global ist, bringt es nichts, uns abzuschotten, im Gegenteil, wir müssen die Türen füreinander öffnen“ (Cam Dündar, ehemaliger Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet).