Sehnsüchtig blicken deutsche Linke nach Frankreich. Auf der anderen Rheinseite sehen sie eine lebhafte Protestkultur, die sie zu Hause vermissen. Von den aktuellen Streiks und Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform von Präsident Hollande fühlen sie sich bestätigt: Man wehrt sich gegen Sozialabbau, auch wenn ihn die Sozialdemokratie selbst betreibt.

„Nuit debout“ kann an eine lange französische Protestkultur anknüpfen. Der Vergleich zum Mai 1968 zeigt auch gesellschaftliche Veränderungen. „Nuit debout“ – übersetzt: „Die Nacht über wach bleiben“, „die Nacht aufrecht verbringen“ – ist eine soziale Bewegung, die in Frankreich seit Ende März diesen Jahres auf dem Pariser Place de la République und anderen Städten des Landes jeden Abend und in der darauf folgenden Nacht gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts protestiert.

Hier reagieren Liberale und Konservative ermüdet auf die jüngsten Proteste. Für sie bestätigt sich nur die alte These, wonach Frankreich „unreformierbar“ sei. Unterstellt wird bei uns, dass jedem klar sein müsse, welche Reformen der Nachbar brauche – bloß den renitenten Franzosen nicht. Abgeklärt kommt der Spruch, dass in Frankreich „jede Generation einmal Revolution spielen“ müsse.

So polemisch das klingt, es ist nicht ganz falsch. In Frankreich sind die Revolution von 1789 und alle folgenden Umwälzungen – erfolgreiche wie gescheiterte – fest im kollektiven Gedächtnis verankert. In jedem Rathaus steht eine Büste der Marianne, der Symbolfigur der Französischen Revolution. Die charakteristische rote Mütze dieser personifizierten Freiheit (gemalt von Eugène Delacroix in seinem berühmten Bild von 1830) sieht man bis heute bei Protesten jedweder Couleur. Anhänger der Linksfront tragen sie ebenso wie Demonstrantinnen gegen die Ehe für alle. Was sie bei allen fundamentalen Differenzen eint, ist das parteiübergreifend geteilte Bekenntnis zur Republik als Verkörperung der Ideale von 1789.

Hierzu gehört auch ein positives Verhältnis zum gesellschaftlichen Konflikt. Wie in allen romanischen Ländern geht damit auch in Frankreich ein gewisses Verständnis für militante Formen des Protestes einher, ein Vermächtnis der in Südeuropa einst starken Anarchisten. Traditionell steht dafür nicht zuletzt das alljährliche Gedenken an die Pariser Kommune. Auch sozialistische Politiker legen dann Blumen am Père Lachaise nieder, dem Pariser Friedhof, auf dem die letzten Verteidiger dieses frühen sozialistischen Experiments im Mai 1871 ihr Leben ließen. Die Wertschätzung des Konflikts zeigt sich heute auch in den intellektuellen Debatten, der Vielzahl politischer Zeitschriften, aber vor allem im vehementen öffentlichen Einstehen für die eigenen Interessen. Folglich nutzen viele Franzosen ihr Individualrecht auf Streik und legen die Arbeit aus politischen Gründen nieder.

Bei uns in Deutschland ist politischer Streik verboten. Die hiesige politische Kultur ist konsensverliebt. Das mag historisch daran liegen, dass viele entscheidende Veränderungen in Deutschland als Revolution von oben kamen, etwa die Bismarck’schen Sozialreformen, wohingegen sie in Frankreich oft von unten erkämpft wurden. Hauptsächlich aber resultiert dies aus einer Furcht vor der Polarisierung, entsprungen aus einer Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik: Der Kampf zwischen der revolutionären Linken und der antidemokratischen Rechten habe die Mitte zerrieben und die Republik in den Abgrund getrieben. Zum Schutz der Demokratie müssen die politischen Kräfte daher auf Kompromiss und Verständigung setzen.

Aber: Ein Übermaß an Kompromiss stärkt die Demokratie nicht! Fehlende Konflikte stehen für einen Mangel an echten politischen Gegensätzen. Politik wird so zu einem Einheitsbrei, in welchem viele Menschen ihre Anliegen nicht mehr vertreten sehen. Ironie des Schicksals: dieses Problem kann man auch in Frankreich beobachten. Dort verkörpert niemand diesen Mangel besser als Präsident Hollande. Noch im Wahlkampf 2012 stellten die Sozialisten ihren Kandidaten in die Tradition des Aufbegehrens: Videoclips mit ikonischen Bildern diverser Revolutionen, Hollande beschwor seine Gegnerschaft zu Finanzindustrie und zur neoliberalen Europapolitik Angela Merkels. Programmatisch bildete er die Antithese zum konservativen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy. Dann schwenkte Hollande um, die „Rede von der Alternativlosigkeit“ hielt Einzug in die Politik. Heute flexibilisiert die sozialistische Regierung den Arbeitsmarkt, und die konservative Opposition findet die Reform gut, wenn auch en Detail zu lasch. Als einzig wahre Opposition geriert sich seit Jahren ausgerechnet der rechtsextreme Front National. Und die Brocken der Demokratie fliegen einem um die Ohren …

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