Dass Menschen als Mann und Frau „erschaffen“ wurden, wie es in der Bibel steht, beschäftigt uns seither so intensiv wie kaum etwas anderes. Egal, ob wir einen Gott oder die Evolution dafür verantwortlich machen.
Die Erde ganz ohne Sex – das wäre eine Welt ohne die Epen Homers und die Komödien Shakespeares, ohne Mozarts Opern und „Silly love songs“, ohne die Bildhauerei des Perikles und des Michelangelo, ohne Aktmalerei und Hollywood, ohne picklige Teenager, Beziehungsratgeber, Rosenkriege und Illustrierte (telepolis, heise.de).
Dass das Gehirn von Frauen kleiner ist als das von Männern und weniger Neuronen enthält, ist ein unerschöpflicher Quell von Häme und Trost. Der bescheidene quantitative Unterschied taugt aber eher nicht als großartige qualitative Verschiedenheit.
Gestützt auf Verhaltensuntersuchungen behauptete der Sexologe John W. Money (1921-2006), bis zum Alter von 18 Monaten lasse sich beinahe beliebig ein bestimmtes Geschlecht anerziehen. Das gilt heute als überholt, dennoch war es schon in den 1950ern Stand der Forschung, dass neben sechs biologischen auch ein sozialer Faktor das Geschlecht prägt. Die heutige Genetik geht ebenfalls von einer Wechselwirkung von Genen und Umwelt aus. Manche lösen gar den binären Geschlechtsbegriff durch ein Spektrum der Geschlechter auf.
Also noch weiter!
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.10. 2017 Az. 1 BvR 2019/16:
Mit einem Streich wurden nicht nur vorangegangene Urteile des Amtsgerichts Hannover (13.10.2014, Az. 85 III 105/ 14), des Oberlandesgerichts Celle (21.1.2015, Az. 17 W 28/ 14) und des Bundesgerichtshofs (22.6.2016, Az. XII ZB 52/15) aufgehoben, sondern auch entsprechende gesetzliche Regelungen für verfassungswidrig erklärt. Gerichte und Verwaltungsbehörden (vor allem Standesämter) dürfen die Paragraphen nicht mehr anwenden, wenn sich eine Person dauerhaft weder dem männlichen noch weiblichen Geschlecht zuordnen will; alle Verfahren werden bis zu einer Neuregelung angehalten, für die der Gesetzgeber seinerzeit bis zum 31.12.2018 Zeit bekommen hatte. Wir erinnern uns zum Beispiel an die Stellenausschreibung im Discounter: Man sucht „m/w/x“ ….
Warum ist das bei uns so in Europa, dass unser Leben abhängt von meinen biologischen Geschlechtsmerkmalen, die ich von Beginn meiner Existenz mitbekomme? Ist das überall so? Also zwangsläufig?
Nein! Es gibt Kulturen, die zwar die reproduktive Differenz der Menschen kennen und thematisieren, daraus aber keine Unterscheidung zwischen Männern und Frauen ableiten. Am Beispiel der Yoruba in Nigeria (Oyèrónkẹ Oyèwùmí, Soziologin, in The Invention of Women) zeigt sich Folgendes: Dort ist aus Tradition nicht das Geschlecht, sondern das Alter das wichtigste Kriterium für die soziale Einordnung. Für „Frau“ oder „Mann“ in unserem Sinn gibt es keine Wörter. Zwar existiert ein Begriff für Menschen mit Gebärmutter in der Lebensphase des Kindergebärens (obinrin), aber das bezeichnet nicht das Wesen dieser Personen, sondern lediglich eine bestimmte Funktion, die auch nur in diesem Zusammenhang von Interesse ist. Die Menschen dort sind auf eine Weise „Frau“, die Information ist zutreffend, aber sie prägt nicht das gesamte Leben. Sie ist nur in einem konkreten Beziehungskontext bzw. bestimmtem Zeitraum relevant.
Andere Länder, andere Sitten! Oder auch: O tempora, o mores (Cicero)!
Denkschubladen müssen ausgemistet werden.
Wir haben daran wohl noch ein Weilchen zu knabbern …