Beim Streit über den von Großbritannien zum 31. Oktober geplanten Brexit geht es vor allem darum, dass Johnson das bereits ausgehandelte Austrittsabkommen noch einmal aufschnüren will, um die sogenannte Backstop-Klausel zu streichen. Die EU lehnt das kategorisch ab und verweist darauf, dass die Klausel verhindern soll, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen.

Johnson sieht den Backstop hingegen als ein „Instrument der Einkerkerung“ (SPON), weil es das britische Nordirland in Zollunion und Binnenmarkt halten könnte, wenn bei den noch ausstehenden Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien keine Einigkeit erzielt wird.

Aus EU-Kreisen hieß es gestern nach dem Treffen zwischen Boris Johnson und Donald Tusk, das Thema sei von der britischen Seite nicht angesprochen worden. Zudem wurde betont, dass die von Johnson genannte Summe von 39 Milliarden Pfund (43 Milliarden Euro) keine EU-Zahl sei. Den Angaben zufolge könnte die Abschlussrechnung niedriger ausfallen. Sie werde bekannt gegeben, wenn feststehe, wann Großbritannien die EU verlasse (welt.de).

Sollte Großbritannien die EU mit einem No-Deal verlassen, möchte der britische Premierminister die noch ausstehenden Zahlungen an die EU kürzen. Sollte es zu einem No-Deal-Brexit kommen, könnte Großbritannien nur 9 statt der geplanten 39 Milliarden Pfund zahlen (news.sky.com). Demnach verliert die von Johnsons Vorgängerin Theresa May vereinbarte Brexit-Schlussrechnung im Falle eines No-Deal-Austritts für Johnson ihre Gültigkeit.

Frankreich hat den Briten seit deren Referendum über den Austritt aus der EU stets deutlich gemacht, dass man nicht versuchen wird, sie um jeden Preis zu halten und auch einen Brexit ohne Abkommen nicht fürchtet. Daran änderte auch der freundliche Empfang im Élysée nichts. Eine Lösung für den von den Briten verhassten Backstop kann sich Macron nur „innerhalb des bereits verhandelten Rahmens“ vorstellen.

Es sieht nicht gut aus für Großbritannien:

Ein britisches Regierungsdokument (SPON, 19.08.2019), das in der Sunday Times auftauchte, zeichnet ein düsteres Bild: Im Fall eines ungeordneten Brexits, der derzeit immer wahrscheinlicher wird, wären bis zu 85 Prozent der britischen Lkw nicht für Grenzkontrollen in Frankreich gewappnet, heißt es in dem Papier. Sie könnten tagelang an der Grenze hängenbleiben. An den Häfen des Ärmelkanals könnten die Störungen sogar drei Monate dauern, in manchen Fällen sogar noch länger. Das könnte zu landesweiten Engpässen bei Medikamenten führen, da drei Viertel von ihnen über den Kanal nach Großbritannien eingeführt werden.

Auch in den Supermärkten könnten manche Lebensmittel knapp werden, was die Preise in die Höhe treiben würde. Besonders betroffen wären vor allem einkommensschwächere Haushalte. Zölle auf Kraftstoffe würden die britische Erdölbranche erschüttern. Zwei Raffinerien könnten geschlossen werden, 2.000 Jobs wären gefährdet. Grenzkontrollen an der inneririschen Grenze, die Premierminister Johnson eigentlich verhindern möchte, könnten unvermeidbar werden. Außerdem wäre mit landesweiten Protesten und Unruhen zu rechnen. Die Polizeibehörden des Landes bereiteten sich bereits darauf vor.

Die Frage ist: Was will Johnson eigentlich?

In einem Schreiben (faz.net) bot er Donald Tusk als Ersatz für den als „antidemokratisch“ bezeichneten Backstop an, dass sich beide Seiten rechtlich verpflichten, keine Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland zu errichten. Johnson spricht von einer Übergangsperiode mit „alternativen Vereinbarungen“, welche Kontrollen überflüssig machen sollten. Offenbar ist damit insbesondere an eine elektronische Erfassung von Handelsströmen gedacht. Überlegungen dazu gibt es seit längerem, konkrete Lösungen dafür sind jedoch derzeit noch nicht in Sicht. Nicht zuletzt deshalb bietet der Regierungschef für den Fall, dass bis zum Ablauf der derzeit grundsätzlich bis Ende 2020 geplanten Übergangsfrist nach dem Austritt keine „alternativen Vereinbarungen“ zustande kommen, etwas an, was auf den ersten Blick als ein Entgegenkommen erscheinen mag: „Wir sind bereit, konstruktiv und flexibel darauf zu blicken, welche Verpflichtungen, selbstverständlich in Einklang mit den in diesem Brief dargelegten Prinzipien, hilfreich sein könnten (faz.net, 20.08.2019).

Außer Worthülsen ist das leider nichts. Alles in allem: Die Briten haben keinen Plan für eine wirkungsvolle und vor allem dauerhafte Lösung des von ihnen angestoßenen Brexits. Man hat sich in der ersten Euphorie verrannt, ohne dass man die Folgen der Entscheidung richtig überblickt hat, soweit dies überhaupt möglich war.

Jetzt kann man nur noch die Scherben auflesen; und das wird teuer.

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