Zuweilen werden in Feuilletons und Kommentaren der Printmedien Neoliberalismus und Religion in einem Atemzug genannt. Unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten sind ökonomische Phänomene und sie begleitende Theorien bisher kaum betrachtet worden.
In der kleinen, unvollendet gebliebenen Arbeit Kapitalismus als Religion von 1921 hat Walter Benjamin den modernen Kapitalismus als eine Gesellschaft der gläubigen Aufopferung charakterisiert. Als eine „religiöse Bewegung“, die bis zur „endlichen völligen Verschuldung Gottes“ führt. Die religiöse Struktur des Kapitalismus nicht nur als eine durch den Pietismus begünstigte, ihm quasi entwachsene Gesellschaftsform zu verstehen, wie Max Weber, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung“, das traute sich Benjamin noch nicht, weil er befürchtete, in eine „maßlose Universalpolemik“ zu verfallen.
Benjamins Denkansatz bleibt ein wenig im Metaphorischen stecken. Er bezieht den Begriff Religion auf die Ganzheit einer Gesellschaftsformation, also generell auf Leben und Verhaltensweisen der Menschen einer Epoche. Selbst wenn Kapitalismus als Religion gelebt wird, ist er zunächst einmal existenzielle Basis des Lebens. Mit dem Begriff Neoliberalismus verbindet man eine bestimmte Form des Kapitalismus.
Der Neoliberalismus aktiviert Theorien, die ihren Ursprung im bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben. Insofern ist der Vorwurf heutiger Protagonisten, ihre Gegner, die eine prozyklische Politik à la Keynes fordern, griffen veraltete Konzepte auf, demagogisch. Keynes veröffentlichte seine General Theory of Employment 1936, während der heutige Mainstream sich die Maxime des Klassikers der liberalen Ökonomie, Adam Smith (1723 – 1790), „Laissez faire, laissez aller!“ – „Lasst machen, lasst gehen!“ –, zu zeigen macht. Und zwar unter Verzicht auf seine wahrhaft liberale Theory of Moral Sentiments. Die Smith’sche Formel wird gemieden, aber die Illusion vom „freien Spiel der Kräfte“, in das der Staat nicht, etwa durch einen Mindestlohn, eingreifen darf, wird übernommen. Das haben zuletzt die fünf Wirtschaftsweisen mit ihrem Jahresgutachten 2014/15 überdeutlich offenbart. Der Titel ihrer übergebenen Expertise: „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“!
Smith’ Annahme von der Selbstregulation des Marktes, der alle gesellschaftlichen Probleme löse, wenn man das Kapital gewähren lasse, ist ideologisch motiviert und daher für religiöse Implikationen anfällig. Wir haben es mit der Herauslösung eines Begriffs der Praxis ins Übersinnliche zu tun. Schon Alexander Rüstow (1885 – 1963), einer der Geburtshelfer des Ordoliberalismus, hatte Smith’ „unsichtbare Hand“ mit einer „quasi-religiösen Befangenheit“ in der Tradition des Spinozismus erklärt, wonach alles auf der Erde gottgelenkt sei, demzufolge jede menschliche „Regulierung“ schädlich.
Der Markt des Adam Smith setzt voraus, dass alle Kapitaleigner zum Wohlergehen der Gemeinschaft investieren und für Beschäftigung sorgen; ein utopischer Markt!
Eine in sich geschlossene Lehre tritt mit dem Anspruch der „Kontingenzbewältigung und der Sinndeutung der menschlichen Existenz im Diesseits“ auf, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Die Gralshüter wähnen sich im alleinigen Besitz der Wahrheit. Gerhard Schröder und Angela Merkel: „Es gibt keine Alternative.“ Nach rund acht Jahren grandiosen Marktversagens schwören die Denkfabriken der Neoliberalen unbeirrt weiter auf die Segnungen des freien, will sagen: des entfesselten Marktes. Vor der Krise ist nach der Krise. Als hätte es sie nicht gegeben. Die Lehre ist sakrosankt!
Trotzdem wurde und wird die Theorie der „vollkommenen Märkte“ von der Mainstream-Ökonomie als Garant für Wachstum und soziale Sicherheit betrachtet. „Diese Hoffnung gründet sich eher auf Glauben – besonders bei denjenigen, die davon profitieren – als auf Wissenschaft“ (Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger).
Nun scheint der Gegenstand der Ökonomie, oberflächlich betrachtet, jede Transzendenz auszuschließen. Der Schein trügt.
Zur Messlatte des Religiösen gehört ein Glaubenssystem, das auf Mythen beruht, die systematisiert und durch Bekenntnisformeln und Dogmen zu einem Weltbild geführt werden (Charles Glock und Rodney Stark Dimensionen des Religiösen). Kanonische Floskeln werden gebetsmühlenartig wiederholt. Um nur einige zu nennen: Wenn es den Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut. Lohnkosten müssen sinken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Arbeitszeit ist zu verlängern, damit Umsatz und Kaufkraft gesteigert werden. Diese Dogmen sind nicht nur in sich widersprüchlich (zum Beispiel: wie soll bei gesenkten Löhnen und Sozialleistungen die erhöhte Warenmenge gekauft werden?), die einzelnen Kernsätze halten auch keiner faktischen Prüfung stand.