Ob in Gender- oder Rassismusdebatten, bei Klima- oder Coronamaßnahmen: Die Stimmung ist aufgeheizt, die rhetorischen Waffen sind scharf. Wer versucht, zwischen verhärteten Fronten zu vermitteln, hat es oft schwer. Denn jede noch so zögerliche Äußerung wird sofort einem Lager zugeschlagen. Der Raum, um über die Sache selbst noch ergebnisoffen nachzudenken, ist so schwer zu finden. Nicht nur die Gesellschaft, auch das Denken selbst scheint zunehmend polarisiert und politisiert. Es gibt so eine Tendenz, das Abstrakte erst mal zu diskreditieren. In diesem Sog zum Aktuellen und Konkreten liegt eine Einengung des intellektuellen Freiraums, den gerade das Abstrakte bieten kann (Andrea Roeding, deutschlandfunkkultur.de, 21.11.2021). Bereits das Verhältnis der meisten Intellektuellen der Kaiserreichs-Zeit zur Politik im Allgemeinen war spannungsreich, und das prägte auch ihre Einstellung zur Idee und Praxis der Demokratie. Ohne Zweifel gab es demokratische Züge in der politischen
Ordnung des Kaiserreichs. Je weiter man sich von der Reichsebene entfernt, stößt man auf demokratische Praktiken, von vielen einzelnen Regionen des Deutschen Reichs ganz abgesehen. Doch für Intellektuelle war Demokratie noch keine zivilgesellschaftliche Aktivität (nur wenige kannten Tocqueville und niemand sprach von Zivilgesellschaft), sie verbanden mit Demokratie vor allem die nationale Politikebene. Ohne ausdrücklich anti-demokratisch eingestellt zu sein, war eine gewisse Demokratie-Skepsis auf der nationalen Ebene unter Intellektuellen, die sich ansonsten als progressiv, autonom und humanitär eingestellt verstanden, weit
verbreitet. Die meisten sich mit dem Bürgertum identifizierenden Intellektuellen hielten deshalb eine bildungsbürgerliche Distanz zur Politik. Bei ihnen evozierte die „Masse“ vor allem Vorstellungen und Befürchtungen hinsichtlich einer Nivellierung des Bildungs- und Kulturniveaus (demokratie-geschichte.de). Quo vademus? Widersprüchliche Tendenzen der Ent- und (Re-)Politisierung prägen die gegenwärtige demokratische Gesellschaft. Protestbewegungen und Populismus polarisieren auf der Straße und in sozialen Medien, während anonyme Algorithmen oder wissenschaftliche Expertise den Spielraum für politisches Entscheiden zunehmend zuschnüren.

Es ist also gar nicht so leicht zu klären, wer ein Intellektueller ist. Einer, der irgendein Diplom hat? Oder eine Sprachprüfung? Der weiß, wer Homer und Thomas Mann waren, der die Relativitätstheorie kennt und Johann Sebastian Bach, Béla Bartók und Zbigniew Preisner gleichermaßen hört? Der keine Seifenopern anschaut, ja
womöglich gar keinen Fernseher hat, und nie zu McDonald’s geht? In einem Punkte wich beispielsweise die französische Geschichte von anderen westlichen Entwicklungen ab. Selbst die antisemitisch-monarchistischen
Intellektuellenhasser gaben die Ratio als Basis ihrer Argumentation nicht auf. Bei allem Geschimpfe auf „die Intellektuellen“ erhoben sie doch auch den Anspruch, selber „Intellektuelle“ zu sein, allerdings: „die richtigen Intellektuellen“. Stellte nun Édouard Drumont, der Exponent des Antisemitismus, diesen Anspruch lauthals, dann musste er schon am nächsten Tag in „L’Aurore“ lesen, „dass man ihn auf keinen Fall (aucunement) als Intellektuellen zählen kann“ (Dietz Bering „Intellektueller“: Schimpfwort – Diskursbegriff – Grabmal? APuZ 40/2010, S. 5(6)). Pech, mein Lieber …

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